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Der Besuch der alten Dame (German Edition)

Der Besuch der alten Dame (German Edition)

Titel: Der Besuch der alten Dame (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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schützen, mißachtet, die Ehe beleidigt, ein Gericht getäuscht, eine junge Mutter ins Elend gestoßen wird. Pfuirufe. Mit unseren Idealen müssen wir nun eben in Gottes Namen Ernst machen, blutigen Ernst. Riesenbeifall. Reichtum hat nur dann Sinn, wenn aus ihm Reichtum an Gnade entsteht: Begnadet aber wird nur, wer nach der Gnade hungert. Habt ihr diesen Hunger, Güllener, diesen Hunger des Geistes, und nicht nur den anderen, profanen, den Hunger des Leibes? Das ist die Frage, wie ich als Rektor des Gymnasiums ausrufen möchte. Nur wenn ihr das Böse nicht aushaltet, nur wenn ihr unter keinen Umständen in einer Welt der Ungerechtigkeit mehr leben könnt, dürft ihr die Milliarde der Frau Zachanassian annehmen und die Bedingung erfüllen, die mit dieser Stiftung verbunden ist. Dies, Güllener, bitte ich zu bedenken.
    Tosender Beifall.
     
    DER RADIOREPORTER Sie hören den Beifall, meine Damen und Herren. Ich bin erschüttert. Die Rede des Rektors bewies eine sittliche Größe, wie wir sie heute – leider – nicht mehr allzuoft finden. Mutig wurde auf Mißstände allgemeiner Art hingewiesen, auf Ungerechtigkeiten, wie sie ja in jeder Gemeinde vorkommen, überall, wo Menschen sind.
    DER BÜRGERMEISTER Alfred Ill –
    DER RADIOREPORTER Der Bürgermeister ergreift wieder das Wort.
    DER BÜRGERMEISTER Alfred Ill, ich habe an Sie eine Frage zu stellen.
    Der Polizist gibt Ill einen Stoß. Der erhebt sich. Der Radiosprecher kommt mit dem Mikrophon zu ihm.
     
    DER RADIOREPORTER Nun die Stimme des Mannes, auf dessen Vorschlag hin die Zachanassian-Stiftung gegründet wurde, die Stimme Alfred Ills, des Jugendfreundes der Wohltäterin. Alfred Ill ist ein rüstiger Mann von etwa siebzig Jahren, ein senkrechter Güllener von altem Schrot und Korn, natürlicherweise ergriffen, voll Dankbarkeit, voll stiller Genugtuung.
    DER BÜRGERMEISTER Ihretwegen wurde uns die Stiftung angeboten, Alfred Ill. Sind sie sich dessen bewußt?
    Ill sagt leise etwas.
     
    DER RADIOREPORTER Sie müssen lauter reden, guter alter Mann, damit unsere Hörerinnen und Hörer auch etwas verstehen.
    ILL Ja.
    DER BÜRGERMEISTER Werden Sie unseren Entscheid über Annahme oder Ablehnung der Claire-Zachanassian-Stiftung respektieren?
    ILL Ich respektiere ihn.
    DER BÜRGERMEISTER Hat jemand an Alfred Ill eine Frage zu stellen?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Hat jemand zur Stiftung der Frau Zachanassian eine Bemerkung zu machen?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Herr Pfarrer?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Herr Stadtarzt?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Die Polizei?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Die politische Opposition?
    Schweigen.
     
    DER BÜRGERMEISTER Ich schreite zur Abstimmung.
    Stille. Nur das Surren der Filmapparate, das Aufblitzen der Blitzlichter.
     
    DER BÜRGERMEISTER Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will, erhebe die Hand.
    Alle außer Ill erheben die Hand.
     
    DER RADIOREPORTER Andächtige Stille im Theatersaal. Nichts als ein einziges Meer von erhobenen Händen, wie eine gewaltige Verschwörung für eine bessere, gerechtere Welt. Nur der alte Mann sitzt regungslos, vor Freude überwältigt. Sein Ziel ist erreicht, die Stiftung dank der wohltätigen Jugendfreundin errichtet.
    DER BÜRGERMEISTER Die Stiftung der Claire Zachanassian ist angenommen. Einstimmig. Nicht des Geldes –
    DIE GEMEINDE Nicht des Geldes –
    DER BÜRGERMEISTER sondern der Gerechtigkeit wegen –
    DIE GEMEINDE sondern der Gerechtigkeit wegen –
    DER BÜRGERMEISTER und aus Gewissensnot.
    DIE GEMEINDE und aus Gewissensnot.
    DER BÜRGERMEISTER Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden –
    DIE GEMEINDE Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden –
    DER BÜRGERMEISTER welches wir ausrotten müssen –
    DIE GEMEINDE welches wir ausrotten müssen –
    DER BÜRGERMEISTER damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden –
    DIE GEMEINDE damit unsere Seelen nicht Schaden erleiden –
    DER BÜRGERMEISTER und unsere heiligsten Güter.
    DIE GEMEINDE und unsere heiligsten Güter.
    ILL schreit auf Mein Gott!
    Alle stehen feierlich mit erhobenen Händen da, doch nun hat es bei der Kamera der Filmwochenschau eine Panne gegeben.
     
    DER KAMERAMANN Schade, Herr Bürgermeister. Die Beleuchtung streikte. Bitte die Schlußabstimmung noch einmal.
    DER BÜRGERMEISTER Noch einmal?
    DER KAMERAMANN Für die Filmwochenschau.
    DER BÜRGERMEISTER Aber natürlich.
    DER KAMERAMANN Scheinwerfer in Ordnung?
    EINE

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