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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Beerdigung. Während ich mich umschaute, sah ich unter den Anwesenden etliche bekannte Gesichter: Zeitungsreporter, Freunde der Familie, Bill Desmond und die Rossiters. Sogar Seeley war gekommen; er fing meinen Blick auf und neigte höflich den Kopf. Dann entdeckte ich Carolines Onkel und Tante aus Sussex, die neben Harold Hepton saßen. Ich hatte schon gehört, dass sie Roderick in der Klinik besucht hatten und schockiert über seinen Zustand waren. Die Nachricht vom Tod seiner Schwester hatte ihn anscheinend endgültig in den Wahnsinn getrieben. Sie blieben auf Hundreds und taten ihr Bestes, um die komplexe finanzielle Lage des Anwesens in seinem Sinne zu regeln.
    Die Tante wirkte kränklich, wie ich fand. Sie schien meinem Blick auszuweichen. Sie und ihr Mann hatten zweifelsohne durch Hepton erfahren, was aus den Hochzeitsplänen geworden war.
    Die Untersuchung begann. Die Geschworenen wurden vereidigt; Cedric Riddell, der Coroner, umriss kurz den Fall und rief dann die Zeugen auf, von denen es nicht allzu viele gab. Als Erstes trat Graham in den Zeugenstand, berichtete über seinen Besuch auf Hundreds Hall in der besagten Nacht und trug seine Schlussfolgerungen über die Umstände von Carolines Tod vor. Er wiederholte die Obduktionsergebnisse, die seiner Meinung nach eine körperliche Ursache ausschlossen. Er halte es für sehr viel wahrscheinlicher, dass Caroline gestürzt sei – »durch einen Unfall oder vorsätzlich«, wie er es ausdrückte.
    Als Nächstes kam der Sergeant der örtlichen Polizeiwache zu Wort. Er bestätigte, dass er am Haus keinerlei Anzeichen für einen Einbruch gefunden habe, Fenster und Türen seien alle fest verschlossen gewesen. Dann zeigte er Fotos von Carolines Leiche, die an die Geschworenen und ein oder zwei andere Leute weitergereicht wurden. Ich bekam sie nicht zu sehen und war auch froh darüber; an den Gesichtern der Geschworenen konnte ich ablesen, dass sie ziemlich erschütternd sein mussten. Doch der Sergeant hatte auch Fotos des Treppenabsatzes im zweiten Stock mit seinem stabilen Treppengeländer mitgebracht; Riddell betrachtete diese genau und erkundigte sich nach den Abmessungen des Geländers – der Höhe, der Breite der Abstände zwischen den Verstrebungen. Dann fragte er Graham nach Carolines Körpergröße, und nachdem Graham hastig seine Unterlagen durchgeblättert und ihm die Größe genannt hatte, ließ er einen der Gerichtsdiener eine Art Attrappe des Geländers hochhalten und bat die Gerichtssekretärin, die etwa Carolines Größe hatte, sich davorzustellen. Das Geländer reichte ihr bis über die Hüfte. Dann fragte er sie, für wie wahrscheinlich sie es halten würde, dass sie über ein Geländer dieser Höhe stürzen könne, zum Beispiel infolge eines Stolperns. »Für nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte sie.
    Dann forderte er den Sergeant auf, den Zeugenstand wieder zu verlassen, und rief Betty auf. Sie war natürlich die Hauptzeugin.
    Ich sah sie zum ersten Mal seit meinem letzten, so unglückseligen Besuch auf Hundreds Hall, vierzehn Tage vor Carolines Tod. Sie war mit ihrem Vater zur Verhandlung erschienen und hatte mit ihm am Rande des Saales gesessen; nun kam sie nach vorn, eine kleine, magere Gestalt, die gegenüber den zahlreichen Männern in dunklen Anzügen noch mädchenhafter wirkte. Ihr Gesicht war blass, den farblosen Pony hatte sie sich seitlich mit einer Spange festgesteckt; genauso hatte sie auch bei meinem ersten Besuch auf Hundreds vor beinahe einem Jahr ausgesehen. Einzig ihre Kleidung überraschte mich, denn ich hatte sie immer nur in ihrem Zimmermädchenaufzug gesehen. Sie trug einen adretten Rock mit Jacke und darunter eine weiße Bluse. Ihre Schuhe hatten kleine klappernde Absätze, und an den Beinen trug sie dunkle Nahtstrümpfe.
    Mit einer hektischen, nervösen Neigung des Kopfes küsste sie die Bibel, wiederholte aber den Eid mit klarer, kräftiger Stimme und beantwortete auch Riddells einleitende Fragen laut und deutlich. Mir war klar, dass sie nun das Gleiche ausführen würde, was sie schon Graham erzählt hatte, und mir graute davor, die Geschichte noch einmal und in allen Einzelheiten hören zu müssen. Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub die Stirn in den Händen.
    Am Abend des siebenundzwanzigsten Mai, so hörte ich sie erzählen, seien sie und Miss Ayres früh zu Bett gegangen. Im Haus sei es zu diesem Zeitpunkt »ziemlich komisch« gewesen, da praktisch alle Teppiche, Vorhänge und Möbel bereits ausgeräumt

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