Der Besucher - Roman
schwer zu verdauen ist. Aber …«, er wurde verlegen, »quäl dich bloß nicht mit irgendwelchen müßigen Spekulationen herum, ja?«
Ich blickte ihn an. »Spekulationen?«
»Ich meine darüber, wie Caroline genau gestorben ist. Die Obduktion wird das ja vielleicht erhellen. Womöglich hatte sie eine Art Anfall, wer weiß. Die Leute werden natürlich unweigerlich das Schlimmste annehmen, aber wahrscheinlich war es bloß ein ganz gewöhnlicher Unfall, und wir werden niemals ganz sicher erfahren, was genau passiert ist … Die arme Caroline. Nach allem, was sie durchgemacht hat, hätte sie es doch wirklich besser verdient, oder?«
Mir wurde bewusst, dass ich mich noch nicht einmal gefragt hatte, was ihren Sturz verursacht hatte, so als hätte ihr Tod etwas Unausweichliches, das jede äußere Logik außer Kraft setzte. Doch während mir Grahams Worte durch den Kopf gingen, dämmerte mir plötzlich, worauf er hinauswollte.
»Du willst doch nicht etwa andeuten, dass sie es absichtlich getan hat? Willst du damit sagen … dass es Selbstmord war?«
Hastig erwiderte er: »Ach, ich will gar nichts sagen. Ich meine bloß, dass die Leute nach allem, was mit ihrer Mutter geschehen ist, sich das natürlich schon fragen werden. Aber was macht das schon? Denk nicht drüber nach, ja?«
»Aber es kann kein Selbstmord gewesen sein«, sagte ich. »Sie muss ausgerutscht sein oder das Gleichgewicht verloren haben. Nachts, wenn der Generator ausgeschaltet ist, ist es in diesem Haus …«
Doch dann dachte ich daran, wie das helle Mondlicht durch die Glaskuppel ins Treppenhaus gefallen sein musste. Ich stellte mir das stabile Treppengeländer von Hundreds vor. Ich sah Caroline vor mir, wie sie mit ihren kräftigen Beinen trittsicher über die wohlbekannten Stufen und Treppenabsätze ging.
Ich starrte Graham an, der offenbar meine verwirrten, aufgewühlten Gedanken erriet. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte mit fester Stimme: »Grüble nicht weiter darüber nach. Nicht jetzt. Es ist eine schreckliche Geschichte, aber sie ist vorbei. Es war nicht deine Schuld. Niemand hätte etwas daran ändern können. Hörst du?«
Vermutlich gibt es eine Grenze für die Trauer, die ein Mensch willens ist zu ertragen. Auch wenn man Salz in ein Glas Wasser schüttet, kommt schließlich irgendwann der Zeitpunkt, wo die Lösung gesättigt ist. Meine Gedanken hetzten einige Zeit in bangen Kreisen umeinander, doch irgendwann waren sie erschöpft. Ich verbrachte die nächsten Tage beinahe ruhig, fast als hätte sich gar nicht viel verändert, und in gewisser Weise hatte sich für mich auch tatsächlich nichts geändert. Meine Nachbarn und Patienten behandelten mich sehr nett und verständnisvoll, doch selbst ihnen schien es schwerzufallen, eine angemessene Reaktion auf Carolines Tod zu finden; zu schnell war er auf den Tod ihrer Mutter gefolgt und passte nach all den anderen Geheimnissen und Tragödien, die in der letzten Zeit auf Hundreds geschehen waren, einfach zu sehr ins Bild. Es wurde verhalten darüber spekuliert, wie der Sturz geschehen sein mochte, wobei die meisten Leute – genau wie Graham vorausgesehen hatte – die Ansicht vertraten, dass es wohl Selbstmord gewesen sei, und viele – vermutlich weil sie an Roderick dachten – auch eine mögliche Geisteskrankheit erwähnten. Man hoffte, dass die Obduktion mehr enthüllen würde, doch auch die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung trugen nichts zur Aufklärung bei. Sie zeigten bloß, dass Caroline bei guter körperlicher Gesundheit gewesen war. Sie hatte weder einen Schlaganfall noch einen epileptischen Anfall noch einen Herzinfarkt erlitten, und es gab auch keinerlei Hinweise auf einen Kampf.
Ich wäre damit zufrieden gewesen und hätte die Dinge auf sich beruhen lassen. Schließlich konnten weder Spekulationen noch intensivere Nachforschungen Caroline wieder zum Leben erwecken; nichts würde sie mir wiederbringen. Doch von Amts wegen musste die Todesursache bestimmt werden. Genau wie nach Mrs. Ayres’ Selbstmord vor sechs Wochen verlangte der Coroner wieder eine gerichtliche Untersuchung. Und da ich der Hausarzt der Familie Ayres war, wurde ich zu meiner Bestürzung ebenfalls vorgeladen.
Ich ging gemeinsam mit Graham in den Gerichtssaal und saß neben ihm. Es war Montag, der vierzehnte Juni. Im Saal war es nicht sehr voll, doch dank des schönen Wetters wurde es rasch warm im Raum, zumal wir alle in schwere schwarze und graue Anzüge gekleidet waren wie für eine
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