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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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sehen. Sie glaubte, dass sie »nie wieder zu Verstand« käme.
    Graham gab ihr ein Beruhigungsmittel und nahm dann, genau wie ich nur wenige Wochen zuvor, den Hörer von dem altertümlichen Telefon und rief die Polizei und den Leichenwagen. Meine Nummer rief er ebenfalls an, um mir mitzuteilen, was passiert war; natürlich ging immer noch niemand ans Telefon. Er dachte an die Fahrzeuge, die bald eintreffen würden, und erinnerte sich an die verschlossenen Parktore; daraufhin ließ er sich von Betty die Schlüssel zu den Vorhängeschlössern geben und lief durch den mondhellen Park zurück zu seinem eigenen Auto. Er sagte, er sei froh gewesen, das Haus verlassen zu können, und hätte regelrechten Widerwillen verspürt, noch einmal dorthin zurückzukehren. Er hatte das irrationale Gefühl, das Haus sei von einer Art Seuche befallen; einer schleichenden Infektion, die seine Böden und Wände befallen hatte. Doch natürlich blieb er und wartete, bis der Polizeisergeant eintraf und Carolines Leiche abtransportiert wurde. Gegen fünf Uhr war alles vorbei; danach musste er sich nur noch um Betty kümmern. Sie sah so aufgewühlt und Mitleid erregend aus, dass er schon überlegte, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen; andererseits war er nicht willens, die Verbindung zum Herrenhaus noch länger als unbedingt nötig auszudehnen. Doch konnte er Betty keinesfalls noch länger in dieser entsetzlichen Umgebung allein lassen, also wartete er, bis sie ihre Siebensachen zusammengepackt hatte, und fuhr sie dann die neuneinhalb Meilen bis zum Haus ihrer Eltern; er sagte, sie habe die ganze Fahrt über gezittert. Danach kehrte er nach Lidcote zurück, erzählte Anne, was passiert war, und machte sich auf die Suche nach mir.
    »Du hättest auch nichts mehr tun können, Faraday«, sagte er. »Und um ehrlich zu sein, können wir von Glück sagen, dass der Anruf zu mir durchgestellt wurde. Sie hat bestimmt keine Schmerzen gehabt, so viel kann ich dir versprechen. Doch Carolines Verletzungen … Nun, sie hat vor allem Kopfverletzungen gehabt. Wirklich kein schöner Anblick. Ich wollte nur nicht, dass du es von jemand anderem erfährst. Du bist wahrscheinlich bei einem Patienten gewesen, oder?«
    Wir waren inzwischen in meinem Wohnzimmer im ersten Stock. Er hatte mich dorthin geführt und mir eine Zigarette angeboten. Doch die Zigarette brannte neben mir vor sich hin, ohne dass ich sie geraucht hätte. Ich saß gebeugt in meinem Sessel, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen. Ohne den Kopf zu heben, erwiderte ich mit schwacher Stimme: »Ja, eine akute Appendizitis. Es sah eine Zeit lang ziemlich schlecht aus. Ich habe den Mann selbst nach Leamington gefahren. Andrews hat ihn dann operiert.«
    Graham sagte wieder: »Nun, du hättest wirklich gar nichts tun können. Ich wünschte nur, ich hätte gewusst, dass du im Krankenhaus bist. Dann hätte ich dich eher erreichen können.«
    Mein Verstand arbeitete nur langsam, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte. Doch schließlich wurde mir klar, dass er annahm, ich sei die ganze Nacht über in Leamington gewesen. Ich wollte ihm schon sagen, dass ich tatsächlich, durch einen makabren Zufall, nur ein paar Meilen von Hundreds entfernt in meinem Auto geschlafen hatte, als Carolines Sturz geschehen sein musste. Doch als ich die Hände vom Gesicht nahm, erinnerte ich mich wieder an den verqueren Gefühlszustand, in den ich mich gesteigert hatte, und empfand eine merkwürdige Scham darüber. Also zögerte ich, der Moment verstrich, und dann war es zu spät, um noch etwas zu sagen. Er bemerkte meine Verwirrung und missdeutete sie als Trauer. Wieder sagte er, wie furchtbar leid es ihm täte. Er bot an, mir Tee zu kochen, ein Frühstück zu bereiten. Er sagte, er wolle mich nur ungern allein lassen, und schlug vor, ich solle doch mit zu ihm nach Hause kommen, damit er und Anne sich um mich kümmern könnten. Doch jeden seiner Vorschläge beantwortete ich mit einem Kopfschütteln.
    Als er merkte, dass er mich nicht überzeugen konnte, stand er langsam auf. Auch ich erhob mich, um ihn zur Tür zu bringen, und gemeinsam gingen wir nach unten.
    »Du siehst furchtbar aus, Faraday«, sagte er. »Ich wünschte, du würdest mit zu uns kommen. Anne wird mir nie verzeihen, dass ich dich nicht mitgebracht habe. Kommst du wirklich zurecht?«
    »Ja, ja, ich komme schon klar. Wirklich«, erwiderte ich.
    »Du wirst nicht hier sitzen und vor dich hin brüten? Ich weiß, dass es

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