Der Besucher - Roman
Bäckerei rauchte; die Sonne stand noch niedrig und warf lange Schatten, und Kirche, Backsteinhäuser und Geschäfte, leere Straßen und Bürgersteige, alles wirkte sauber und adrett.
Mein Haus befindet sich ganz oben auf der High Street, und beim Näherkommen sah ich, dass ein Mann vor der Praxistür stand. Er läutete die Nachtglocke, dann schirmte er die Augen mit den Händen ab und starrte durch die Milchglasscheibe neben der Tür. Er trug Hut und Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Ich nahm an, dass es sich um einen Patienten handelte, und meine Laune sank. Doch als er mein Auto herankommen hörte, drehte er sich um – und da erkannte ich David Graham. Irgendetwas an seiner Haltung ließ mich ahnen, dass er schlechte Neuigkeiten hatte. Als ich vorfuhr und seine Miene sah, war mir klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Ich parkte, stieg aus, und er kam mit hängenden Schultern und erschöpftem Gesichtsausdruck auf mich zu.
»Ich habe dich schon gesucht«, sagte er. »Ach, Faraday …« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. Es war ein so ruhiger Morgen, dass ich hören konnte, wie sein unrasiertes Kinn über die Handfläche schabte.
»Was ist los?«, fragte ich. »Ist etwas mit Anne?« Eine andere Möglichkeit fiel mir gar nicht ein.
»Anne?« Er blinzelte mit seinen müden Augen. »Nein. Es ist … Faraday, ich fürchte, es handelt sich um Caroline. Es hat einen Unfall gegeben, draußen auf Hundreds. Es tut mir so leid.«
Etwa gegen drei Uhr nachts war ein Telefonanruf aus Hundreds Hall gekommen: Betty, in völlig aufgelöstem Zustand, die mich hatte sprechen wollen. Ich war natürlich nicht zu Hause gewesen, also hatte die Vermittlung den Anruf an Graham weitergeleitet. Er erfuhr keinerlei Einzelheiten, nur dass er so schnell wie möglich nach Hundreds fahren solle. Er hatte sich angezogen und sofort auf den Weg gemacht – doch die mit Ketten verschlossenen Parktore hielten ihn erst einmal auf. Betty hatte völlig vergessen, dass das Vorhängeschloss wieder dort hing. Er versuchte es zunächst an einem Tor, dann fuhr er um den Park herum zum andern, doch beide waren fest verschlossen und viel zu hoch, um hinüberzuklettern. Er wollte gerade wieder nach Hause umkehren und Betty anrufen, als ihm die Neubauten und die Lücke in der Parkmauer einfielen. Inzwischen waren die Gärten der Häuser zwar mit Maschendrahtzäunen vom Park abgetrennt worden, doch es gelang ihm, über einen der Zäune zu steigen und den Weg zum Herrenhaus zu Fuß zurückzulegen.
Betty machte ihm die Tür auf; eine Öllampe zitterte in ihrer Hand, Sie hatte, wie er sagte, das Stadium der Hysterie schon hinter sich gelassen und war beinahe starr vor Angst, und kaum hatte sie ihn ins Haus gelassen, sah er auch, wieso. Hinter ihr, im Mondlicht auf dem rosa-braunen Schachbrettmuster des Marmorbodens, lag Caroline. Sie trug ihr Nachthemd, der Saum war hochgerutscht. Ihre Beine waren nackt, das offene Haar umgab ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und im ersten Augenblick dachte Graham, sie läge dort in einer Art Ohnmacht oder Anfall. Dann nahm er Betty die Lampe ab, trat näher und sah mit Grauen, dass das, was er im Halbdunkel für Carolines ausgebreitete Haare gehalten hatte, tatsächlich dunkles, geronnenes Blut war. Ihm wurde klar, dass sie von einer der oberen Emporen gestürzt sein musste. Automatisch hob er den Blick und suchte nach einer gebrochenen Stelle im Geländer, doch nichts war defekt. Er zündete noch ein paar Lampen an und untersuchte den Körper, doch es war klar, dass Caroline nicht mehr zu helfen war. Vermutlich war sie schon in dem Moment gestorben, als ihr Kopf auf den Marmorboden schlug. Er holte eine Decke und legte sie über die Leiche, dann führte er Betty in die Küche und kochte Tee.
Er hatte damit gerechnet, dass Betty ihm den Hergang der Ereignisse erzählen würde. Doch Betty hatte enttäuschenderweise nicht viel zu sagen. Sie hatte mitten in der Nacht Carolines Schritte auf der Empore gehört. Als sie aus ihrem Zimmer gekommen war, um nachzuschauen, was los war, hatte sie noch Carolines Körper herabstürzen sehen und dann den Aufprall gehört, als sie auf den Marmorboden schlug. Mehr vermochte sie nicht zu sagen. Sie könne es »nicht ertragen, auch nur daran zu denken«. Der Anblick, wie Caroline im Mondlicht in die Tiefe stürzte, sei das Schlimmste, was sie je gesehen hätte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie es immer noch vor sich
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