Der blaue Mond
Und wenn sie allein hier oben bleibt, fürchte ich, dass ich sie nie mehr wegkriege.
Ich tippe auf meine Uhr und erinnere sie daran, wer hier das Sagen hat.
»Okay«, brummt sie und bewegt sich nur widerwillig vorwärts, als ich sie aus dem Schlafzimmer und in den Flur lotse. Ein paar Türen weiter bleibt sie erneut stehen und fragt: »Nur ganz kurz - was ist denn hier drin?«
Und ehe ich sie aufhalten kann, hat sie den Raum schon betreten - Damens Allerheiligstes. Seinen ganz persönlichen Rückzugsort. Sein gruseliges Mausoleum.
Nur dass es sich verändert hat.
Und zwar drastisch und dramatisch verändert.
Sämtliche Spuren von Damens ganz persönlicher Zeitschleife sind komplett verschwunden - es gibt keinen Picasso, keinen van Gogh und kein Samtsofa mehr.
Stattdessen steht ein Billardtisch mit rotem Filzbelag da, eine gut bestückte Bar aus schwarzem Marmor mit Barhockern aus glänzendem Chrom, während gegenüber einer Wand mit einem gigantischen Flachbildfernseher eine lange Reihe schicker Sessel steht. Ich frage mich, was aus seinen alten Sachen geworden sein mag - den unbezahlbaren Kunstwerken, die mir früher so auf die Nerven gingen, mir aber jetzt, nachdem sie durch so kühle moderne Stücke ersetzt worden sind, wie verschollene Symbole weitaus besserer Zeiten erscheinen.
Ich vermisse den alten Damen. Ich vermisse meinen heiteren, gut aussehenden, galanten Freund, der sich so fest an seine Renaissance-Vergangenheit geklammert hat.
Dieser aalglatte Damen aus dem neuen Jahrtausend ist mir fremd. Und als ich mich noch einmal in seinem Zimmer umsehe, frage ich mich, ob es schon zu spät ist, um ihn zu retten.
»Was ist denn los?« Ava blinzelt. »Du bist ganz weiß geworden.«
Ich packe sie am Arm und zerre sie die Treppe hinunter. »Wir müssen uns beeilen«, herrsche ich sie an. »Bevor es zu spät ist!«
DREIUNDDREISSIG
Ich rase in die Küche und brülle: »Hol die Tasche, die an der Tür steht, und bring sie mir!« Ich laufe zum Kühlschrank, um die Saftvorräte herauszunehmen und sie durch meine zu ersetzen, und das muss ich geschafft haben, ehe Damen nach Hause kommt und uns erwischt.
Doch als ich seine überdimensionierte Kühl-Gefrier-Kombination aufmache, ist der Anblick - genau wie in seinem Zimmer oben - ganz anders als erwartet. Es ist nämlich alles voll mit Essen.
Und zwar mit Unmengen von Essen, als würde er eine richtig große Party planen, die sich mindestens über drei Tage hinzieht.
Ich sehe Rinderseiten, Steakfleisch, riesige Käsekeile, ein halbes Huhn, zwei große Pizzas, Ketchup, Mayonnaise, verschiedene Fast-Food-Behälter - was man sich nur denken kann! Ganz zu schweigen von mehreren Sixpacks Bier im untersten Fach.
Und obwohl das alles völlig normal wirkt, ist das Problem Folgendes: Damen ist nicht normal. Er hat im Grunde seit sechshundert Jahren nicht mehr richtig gegessen.
Und er trinkt auch kein Bier.
Unsterblichkeitssaft, Wasser, gelegentlich mal ein Glas Champagner - das schon.
Heineken und Corona - eher nicht.
»Was ist denn?«, fragt Ava, während sie die Tasche zu Boden fallen lässt, über meine Schulter späht und herauszufinden sucht, worüber ich mich so aufrege. Sie macht das Gefrierteil auf, das voll ist mit Wodka, gefrorenen Pizzas und mehreren Packungen Ben&Jerry's-Eiskrem. »Okay, er ist also vor Kurzem einkaufen gewesen ... Gibt es da irgendeinen Grund zur Beunruhigung, der mir entgangen ist? Manifestiert ihr sonst euer ganzes Essen, wenn ihr Hunger habt?«
Ich schüttele den Kopf, da ich ihr nicht sagen kann, dass Damen und ich nie Hunger kriegen. Bloß weil sie weiß, dass wir übersinnliche Kräfte haben und sowohl hier als auch im Sommerland Dinge manifestieren können, muss sie nicht auch noch den anderen Teil der Geschichte kennen, den Teil, in dem es heißt: Ach, und übrigens, habe ich schon erwähnt, dass wir beide unsterblich sind?
Sie weiß nur, was ich ihr gesagt habe - dass ich den starken Verdacht hege, dass Damen vergiftet wird. Was ich ihr allerdings nicht gesagt habe, ist, dass er auf eine Weise vergiftet wird, die alle seine übersinnlichen Fähigkeiten zerstört, seine gesteigerte Körperkraft, seine enorme Intelligenz, seine hoch entwickelten Talente und Fertigkeiten, ja selbst sein Langzeitgedächtnis für alles, was früher geschehen ist - all das wird nach und nach ausgelöscht, während er allmählich wieder zum Sterblichen wird.
Doch während er nach außen wie ein ganz normaler Oberstufenschüler wirkt - nun
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