Der blinde Hellseher
Kopf hatte er eine
verschorfte Wunde.
Gaby, die Benehmen und Mimik
der Hunde gut kennt, sah sofort: Das Tier hatte Angst. Der Hund bellte zwar
zornig, aber am liebsten hätte er sich verkrochen.
Oskar merkte das natürlich
auch. Obwohl er sich in respektvollem Abstand hielt, zeigte er keine Angst.
„Was habe ich euch gesagt!“
Gabys Stimme kiekste in höchsten Tönen. „Ist das nicht das beste Beispiel. Halb
verhungert! Und geschunden! Und an einer so schweren Kette!“
Ohne Zögern ging sie auf ihn
zu.
Tarzan erschrak so sehr, daß er
sich für einen Moment nicht rühren konnte. Dann spannte er alle Muskeln. Wenn
Gaby von dem Tier angegriffen würde, wollte er sich dazwischen werfen.
Schritt für Schritt ging Gaby
auf ihn zu. Und der Hund benahm sich wie rasend. Er zog die Lefzen zurück,
legte die Ohren flach an, zerrte an der Kette und stemmte die Pfoten auf den
Boden.
Gaby blieb unbeirrt.
„Wie heißt du denn?“ sagte sie
mit ruhiger Stimme. „Bello? Oder Pluto? Oder wie sonst? Brav, mein Hund! Niemand
tut dir was. Wir jedenfalls nicht. Wir wollen dir helfen.“
Bis auf einen Meter war sie
heran. Plötzlich wich der Hund zurück. Er kniff die Rute ein, duckte sich etwas
und ließ seine Drohgebärde wie eine Maske fallen. Nur ein leises Grollen kam
jetzt aus seiner Kehle.
Gaby streckte die Hand aus.
Mißtrauisch beschnupperte er
ihre Finger. Dann leckte er ihre Hand, und Gaby strich ihm über den Kopf und
begann, ihn zwischen den Ohren zu kraulen. Im nächsten Moment schmiegte sich
der Hund an ihr Bein und sah aus großen, gelben Augen zu ihr auf.
„Ich werd’ verrückt“, sagte
Klößchen. „Mir schlägt das Herz in der Kehle. Sowas, nein! Diese Bestie! Und
Gaby geht einfach auf sie zu. Kannst du das auch mit Löwen und Tigern? Mit dir,
Gaby, hätte ich nicht mal im Urwald Angst.“
Gaby lächelte, aber sie blickte
nicht auf. Sie hatte nur Augen für den Hund, und er nur Augen für sie.
Freundschaft auf den ersten Blick,
dachte Tarzan. Sie hat wirklich was, das andere nicht haben. Die Tiere spüren
es sofort. Wenn sie mal Tierärztin wird, ist das ein Segen für alle Vierbeiner.
Und Tierärztin wird sie bestimmt. Das ist ja schon lange ihr fester Vorsatz.
In diesem Moment flog die
Hintertür auf.
Wild gestikulierend stürmte
eine dicke Italienerin heraus. Sie trug einen weißen Kittel, hatte
blauschwarzes Haar und stämmige Arme.
„Was ihr hier machen? Mit
meinem Hund! Weg, weg! Hier Privat! Hof von Trattoria! Weg! Ihr stehlen wollt!
Ich Polizei rufen. Verschwindet, Diebe!“
„Nun beruhigen sie sich!“ sagte
Tarzan. „Wir sind keine Diebe. Unser Hund ist auf den Hof gelaufen. Sonst war
nichts.“
„Geh’ an deine Arbeit, Maria!“
sagte Mario Frasketti, der plötzlich auf der Türschwelle stand.
Aus schmalen Augen sah er die
Kinder an.
Die Italienerin klappte den
Mund zu und ging in die Küche zurück, nicht ohne drohend die Faust zu
schütteln.
„Laß’ den Hund in Ruhe!“ sagte
Frasketti zu Gaby. „Er hat Flöhe.“
„Außerdem ist er
halbverhungert“, sagte Gaby. „Und jemand hat ihn geschlagen.“
„Unsinn!“ Frasketti sah sie
böse an. „Lupo hat sich gestoßen. Außerdem ist diese Rasse so... so schlank.“
„Diese Rasse?“ fragte Tarzan.
„Wie heißt die denn? Gespenster-Windhund? Oder Gerippe-Terrier? Von
Küchenabfällen, Herr Frasketti, kann man keinen Hund ernähren. Er braucht
anständiges Fressen. Fleisch und Hundekuchen. Wer ihm das nicht geben will,
sollte sich keinen Hund halten.“
„Verschwinde, du unverschämter
Bengel! Ihr andern auch!“
Drohend ging er auf Tarzan zu.
„Ich gehe schon“, sagte Tarzan
ruhig. „Aber rühren Sie mich nicht an. Ich bin sehr gut in Judo. Und der Boden
hier ist für Ihre Knochen zu hart.“
Frasketti blieb stehen. Er war
einen Kopf größer als Tarzan. Aber dem sportgestählten Jungen sah man an, was
in ihm steckte.
Was Frasketti wütend durch die
Zähne stieß, war Italienisch. Um gute Wünsche handelte es sich nicht. Das
hörten die Kinder am Ton.
Oskar wurde an die Leine
genommen. Mit ihm verließen die vier den Hof. Frasketti sah ihnen nach. Lupo
winselte leise. Er hatte die Rute eingekniffen. Seine gelben Augen waren bis
zum letzten Moment auf Gaby gerichtet. Mehrmals drehte sie sich um. Als sie bei
den Rädern ankamen, hatte Gaby Tränen in den Augen.
„So eine Gemeinheit! So ein
armes Tier! Dieser elende Kidnapper! Ach, richtig! Jetzt konnten wir überhaupt
nicht nachsehen, ob Volker hier
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