Der blinde Hellseher
ängstlich, Klößchen
aufgeregt. Karl hatte schwerste Bedenken. Wie mit einem grünen Filzschreiber stand
ihm das auf die Stirn geschrieben. Während sie radelten, murmelte er immer
wieder: „Ein echter Konflikt. Lupo müssen wir helfen. Aber Diebstahl bleibt
Diebstahl.“
Bis es Gaby zuviel wurde. Sie
fuhr Karl an und überspielte damit ihre Ängstlichkeit: „Nun hör’ endlich auf!
Wenn du im Deutschunterricht aufgepaßt hättest, wüßtest du: Bei einem Konflikt
fällt man immer auf die Nase. Man hat nur zwei Möglichkeiten, sich zu
entscheiden. Und jede ist schlimm. Wir entscheiden uns für Lupo und gegen die
Ehrlichkeit.“
„Jaja“, sagte Karl, der nie mit
Mädchen stritt — und schon gar nicht mit Gaby. „Ich mach’ ja mit. Aber
Diebstahl bleibt Diebstahl.“
„Man muß sich entscheiden“,
mischte Tarzan sich ein. „Darauf kommt’s an. Mit meiner Mutter habe ich mich
neulich darüber unterhalten. Immer wieder im Leben wird man vor Entscheidungen
gestellt. Und dann darf man nicht kneifen. Auch wenn’s mulmig wird.“
Sie erreichten die Sedanstraße,
fuhren aber diesmal an der TRATTORIA vorbei.
Vor der Hofeinfahrt parkte ein
großer Wagen italienischen Fabrikats, aber mit hiesigem Nummernschild. Er stand
mit zwei Rädern im Parkverbot, mit den anderen auf dem Gehsteig — was hier
ebenfalls verboten war. Doch mit einem Strafzettel brauchte der Besitzer nicht
zu rechnen. Politessen kamen hier bei ihrer Jagd auf Parksünder nur selten
vorbei.
Eine Steinwurfweite entfernt
hielten die Kinder an. Gaby sah blaß aus. Klößchen übernahm ihr Rad. Karl
streichelte Oskar.
„Es muß schnell gehen“, sagte
Tarzan. „Hauptsache, wir kriegen die Kette ab. Hast du gesehen, wie sie
befestigt ist?“
„Ist nur ans Halsband gehakt“,
sagte Gaby.
„Ich überlege, ob ich dich
überhaupt brauche“, meinte Tarzan. „Lupo wird mich schon nicht beißen, und es
ist besser...“
„Ich komme mit“, sagte Gaby
fest. „Mich kennt er. Und außerdem stehe ich zu dem, was wir tun.“
„Überleg’s dir noch mal.“
„Habe ich.“
„Wenn wir überrascht werden,
haue ich mich schon raus. Aber wenn wir mehrere gegen uns haben, bist du in
Gefahr.“
„Ich komme mit“, sagte sie
nochmals.
„Hm.“ Tarzan kratzte sich in
seinen dunklen Locken. Er hatte ein ungutes Gefühl. „Dann aber nur für einen
Moment. Nur, um Lupo zu beruhigen. Dann haust du ab. Überhaupt: Sobald ich mit
Lupo auf die Straße komme, verschwindet ihr. Wir treffen uns dann in der
Eichen-Allee bei Klößchens Eltern.“
Die drei protestierten zwar,
aber Tarzan setzte sich durch.
„Wie willst du ihn denn
überhaupt führen?“ fragte Karl. „Am Halsband?“
„Ich habe eine Schnur“, sagte
Tarzan und holte zwei Meter Bindfaden aus seiner Werkzeugtasche hinterm
Fahrradsattel. „Die nehme ich ersatzweise als Hundeleine.“
„Mein Gott!“ stöhnte Klößchen.
„Bin ich aufgeregt! Ich glaube, ich…“
...muß mal, wollte er sagen.
Aber ihm fiel gerade noch ein, daß Gaby dabei war. Mit Rücksicht auf sie, ließ
er den Satz unvollendet.
„Dann los!“ sagte Tarzan und
gab Gaby einen freundlichen Klaps auf die Schulter.
Langsam gingen sie zur
Einfahrt, wo der schicke Wagen immer noch parkte. Nur wenige Passanten gingen
auf den Gehsteigen. Kalter Wind wirbelte Staub auf und zerrte eine weggeworfene
Zeitung aus dem Papierkorb am Lichtmast. Auf der anderen Straßenseite standen
zwei betrunkene Penner und unterhielten sich lautstark, als wären sie allein
auf der Welt. Dem einen hing der verwilderte Bart bis auf die Brust. Seinem
speckigen Wintermantel sah man an, daß Ungeziefer sich darin wohl fühlte. Er
hatte zerlöcherte Hosen und schiefgetretene Schuhe — der andere auch —, aber
auf dem Kopf thronte ein Hut erster Klasse. Ein richtiger Borsalino — aus
weichem, cremefarbenem Filz, und wie neu.
Wahrscheinlich geklaut! dachte
Tarzan. Aber — wo ist da eigentlich der Unterschied zu dem, was wir jetzt tun?
Klamotten braucht er, der Penner, und Geld hat er nicht. Himmel, wenn das ein
Aufsatzthema wäre: Der Unterschied zwischen dem Diebstahl und unserem!
„Da!“ sagte Gaby. Es klang wie
höchstes Entsetzen. Abrupt blieb sie stehen.
Tarzan traute seinen Augen
nicht.
Lupo kam aus der Einfahrt, aber
nicht allein. Er wurde an der Leine geführt — von einem Mann im hellen
Wildledermantel. Offensichtlich schien Lupo sich zu freuen. Er sprang hin und
her, tollte geradezu.
Hinter dem Mann kam Mario
Frasketti, grinsend,
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