Der blinde Hellseher
den
Rastplatz Kuckucksruh. Immer noch Nebel. Immer noch Stille. Weit und breit
regte sich nichts. Tarzan wußte eine Stelle, wo hohes Brombeergeranke einen
undurchdringlichen Wall bildete. Dort versteckten sie die Räder.
Das war nicht einfach. Sie
mußten die Ranken anheben und rissen sich die Hände blutig. Immerhin — das
Ergebnis befriedigte. Niemand würde die Räder entdecken.
Der Bunker war so vollkommen
getarnt, daß sie ihn zuerst gar nicht fanden. Schließlich stolperte Karl auf
den Mülltonnendeckel. Alles war noch wie voriges Jahr. Nur vor den Sehschlitzen
wucherte Unkraut. Vorsichtig rissen sie gerade soviel aus, daß die Sicht nicht
behindert wurde.
Tarzan warf sein Bündel durch
den Einstieg und kletterte hinterher. Es roch modrig. Aber die Bretterwände
hatten gehalten. Niemand war hier gewesen seit damals. Auch die rohgezimmerte
Bank, zusammengenagelt aus zwei Holzklötzen unterschiedlicher Höhe und einem
schartigen Brett, stand noch da.
Prustend stieg Klößchen durch
den Einstieg. Für ihn war es fast zu eng. Als er steckenblieb, wurde er von Tarzan
an den Beinen heruntergezogen. Karl hatte es da leichter — mit seiner dürren
Windhundfigur.
Sie breiteten die Decken auf
die Bank, hockten sich nebeneinander und grinsten sich an.
„Toll!“ meinte Klößchen. „Mann,
ist das ein Abenteuer. Wir drei gegen den Kidnapper. Wollen wir Wetten
abschließen, wer es ist? Ich tippe trotz allem auf — Raimondo.“
„Ich komme auf unseren guten
alten Frasketti zurück“, meinte Karl.
„Dann bleibt für mich nur
Bosselt“. Tarzan packte sein Butterbrot aus.
Sie frühstückten. Dann wollte
Klößchen Schokolade verteilen.
„Lieber erst nachher“, meinte
Tarzan. „Es dauert noch über drei Stunden. Du hattest schon recht, als du
sagtest, bei so langem Warten wären wir noch für jede Abwechslung dankbar.“
„Daran habe ich gedacht“, sagte
Karl und zog ein Kartenspiel aus der Tasche.
„Mensch, prima!“ freute sich
Klößchen. „Jetzt brauchten wir nur noch einen Tisch.“
Als Ersatz legten sie eine der
Decken über ihre Knie, und dann ging’s.
Sie hatten Spaß. Aber natürlich
verhielten sie sich leise. Bald wurde nur noch geflüstert. Wie immer, wenn man
ungeduldig wartet, kroch die Zeit im Schneckentempo voran. Ab und zu spähten
sie durch die Sehschlitze zum Parkplatz, der etwa 50 Meter entfernt war. Aber
dort regte sich nichts. Dann, gegen halb elf, hob sich der Nebel — schlagartig.
Man konnte zusehen, wie er gen Himmel strebte, als werde er von Schnüren
gezogen.
Der Schwarze Berg kam hervor,
eine dichtbewaldete, pyramidenförmige Anhöhe. Immerhin war sie über 800Meter
hoch. Ein paar schmale Schneisen zogen sich auf dieser Seite bergwärts. Ein
Bach entsprang ziemlich weit oben und stürzte über eine Felsrinne herab. Eine
Weile noch wurde der Gipfel von einem Nebelfetzen gekrönt, der wie ein
komischer Hut aussah.
Rehe ästen auf der Lichtung,
sechs insgesamt.
„Ich glaube, die haben schon
ihr Winterfell“, meinte Karl. „Im Sommer sind sie heller.“
Tarzan sah minutenlang durch
das Fernglas, aber nicht zu den Rehen. Stück um Stück suchte er die Umgebung
ab, ob sich irgendwo etwas rührte. Aber es schien, sie waren die einzigen hier.
Draußen wölbte sich jetzt
blauer Himmel über das Land. Die Sonne strahlte. Der Wetterbericht hatte nicht
gelogen.
Es wurde halb zwölf.
„Hoppla!“ sagte Tarzan leise,
kniff die Augen zusammen und starrte zum Schwarzen Berg hinauf. „Gib mal das
Fernglas, Karl.“
„Ist was?“
„Ich weiß nicht. Aber da oben
in der Schneise hat was aufgeblitzt. Ich glaube, da bewegt sich wer. Oder was.“
Er sah durchs Glas.
„Tatsächlich. Da ist wer. Ich habe gerade noch seinen Schatten gesehen. Jetzt
ist er unter den Bäumen. Was da wohl geblitzt hat? Vielleicht spiegelt sich die
Sonne in Brillengläsern? Oder er hat auch ein Fernglas.“
Unentwegt hielt Tarzan das Glas
an die Augen. „Der kommt runter. Durch den Wald. Manchmal sehe ich seine
Silhouette. Mann, der hat’s eilig. Ob das der Kidnapper... Gleich wissen wir’s.
Er hält direkt auf den Rastplatz zu. Versteht ihr das? Will der sich hinstellen
und Herrn Krause die Geldsendung quittieren?“
„Wah... wahrscheinlich ein
Wand... Wanderer“, flüsterte Klößchen mit bebender Stimme. „Ist er bewaffnet?“
„Wie soll ich das erkennen?“
Tarzan verfolgte den Weg des Unbekannten.
Gleich mußte er auf der anderen Seite der Straße aus dem Wald treten.
Und —
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