Der blinde Hellseher
jetzt kam er.
Die Entfernung betrug nur 70
oder 80 Meter. Eine Armlänge für ein Fernglas. Deshalb sah Tarzan ihn so nahe,
als würden sich gleich ihre Nasenspitzen berühren. Wie in Großaufnahme war das
Gesicht vor ihm.
„Das... das... Nein!“ Tarzan
stotterte. „Das... Er... Kneif’ mich mal, Willi! Das... ist doch nicht wahr.“
„Was denn?“ fragten beide
atemlos und wie aus einem Mund.
„Es ist... Volker.“
„Wie? Du spinnst!“
„Doch! Seht doch selbst. Dazu
braucht ihr kein Fernglas. Es ist Volker. Er... ja, er heult. Mann, heult der.
Was... ist denn los mit ihm?“
Tarzan ließ das Fernglas
sinken. Das war jetzt unnötig. Fassungslos beobachteten die drei durch den
Sehschlitz, wie Volker Krause über die Straße lief. Im gleichen Tempo
überquerte er den Rastplatz. In der linken Hand hielt er einen gewaltigen
Feldstecher, mit der rechten Hand wischte er sich über die verheulten Augen.
Trotzdem lief er wie blind. Jetzt stolperte er und wäre fast gestürzt. Aber wie
von einem Magnet angezogen, strebte er auf den Erdbunker zu.
„Der... der... will hierher“,
stotterte Klößchen. „Ob er... klar! Der ist den Kidnappern entkommen. Ist
abgehauen. Mann!“
Jetzt hörten sie ihn, so nahe
war er. Volker schniefte und schluchzte. Er stolperte über Wurzeln und
Grasbüschel. Dann war er beim Bunker, hob den Deckel ab und ließ sich —
scheinbar ohne hineinzusehen — hinunter. Seine Füße landeten auf Tarzans
Schulter.
„Vorsicht!“ sagte Tarzan. „Hier
ist schon alles besetzt.“
Aufschreiend zog Volker Krause
die Beine zurück.
„He! Bleib hier!“ rief Tarzan.
„Wir sind’s, Volker! Karl, Klößchen und ich. Mann, freuen wir uns! Deinetwegen
sind wir doch hier. Warte!“
Rasch kletterte er hinaus.
Volker Krause war ein gutaussehender
Junge mit braunem Haar, rehfarbenen Augen und ziemlich langen Wimpern. Jetzt
hatte er so dicke Lider, wie man’s nur nach tagelangem Heulen kriegt. Sein
Gesicht war erschreckend bleich. Mit hängenden Schultern stand er da, zitternd.
Und immer wieder wischte er sich über Augen und Nase.
„Mensch, Volker!“ Tarzan
umarmte ihn. „Wie hast du das gemacht? Bist entkommen, was?“
Jetzt waren Klößchen und Karl
aus dem Bunker herausgekrochen. Auch sie wollten Volker umarmen. Aber der riß
sich plötzlich los, ließ sein Fernglas fallen, setzte sich auf den Boden und
verbarg das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten unter unaufhörlichem
Schluchzen.
„Nervenzusammenbruch!“
flüsterte Tarzan. „Sowas gibt’s! Er hat bestimmt was mitgemacht.“
In dem Moment hob Volker den
Kopf. „Quatsch!“ schrie er. „Nichts habe ich mitgemacht. Überhaupt nichts!
Kapiert ihr denn nicht?“
Verstört sahen die drei sich
an.
„Niemand hat mich gekidnappt“,
schrie Volker. „Niemand. Es gibt keinen Kidnapper. Ich selber... ich war’s.
Abgehauen bin ich. Die... Briefe sind von mir. Ich habe sie an meine
Eltern geschickt.“
Sekundenlang war Stille. Tarzan
fand als erster die Sprache wieder.
„Wie... Wieso? Warum denn?“
Kraftlos ließ Volker den Kopf
sinken. Er schrie nicht mehr. Er sprach jetzt so leise, daß die drei ihn kaum
verstanden.
„Warum? Das wird niemand
kapieren. Ihr auch nicht. Jetzt — verstehe ich’s selbst nicht mehr. Ich
wollte...“ Er verstummte.
„Volker“, sagte Tarzan, der
plötzlich ahnte, was in dem Jungen vorging. „Wir sind deine Freunde. Uns kannst
du alles sagen. Wir sind doch hergekommen, um den Kidnapper zu erwischen. Seit
Tagen versuchen wir... Aber das erzähle ich später. Nun sag’ schon! Warum hast
du die Entführung vorgetäuscht? Deine Eltern sind fast gestorben vor Angst um
dich.“
Volker blickte auf. Seine Augen
waren groß und fragend. „Wirklich?“
„Was dachtest du denn? Die sehen
sich nicht mehr ähnlich. Ihr Leben würden sie geben, um dich wieder zu
kriegen.“
Plötzlich lächelte Volker.
„Dann... dann bin ich ihnen doch nicht so gleichgültig?“
„Gleichgültig? Du bist das
Wichtigste für sie.“
„Davon“, sagte Volker sehr
leise, „habe ich schon lange nichts mehr gemerkt. Mein Vater hat Häuser gebaut
und Häuser gebaut und Häuser gebaut. Mein Gott! Wann habe ich ihn mal gesehen?
Wann hat er mit mir gesprochen? Oder sich für das interessiert, was ich mache!
Und Mutti... Ha! Editha Eleonora von Brabant! Und ihr Hellseher. Und das
Medium. Und dann kam lange, lange nichts. Und irgendwo dann kam ich.
Deswegen... Versteht ihr? Zuletzt habe ich sie gehaßt. Ich
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