Der Blinde von Sevilla
besucht hat, erfahre ich, dass es keine polizeiliche Ermittlung geben wird. Es war ein tragischer Unfall. P. hat angefangen, regelmäßig zur Messe zu gehen. Ich blicke mit meinem Fernglas aufs Meer. Es ist glatt und grau wie Stahl. Ich beobachte den Sturzflug der Möwen.
12. Januar 1961, Tanger
Es ist Javiers fünfter Geburtstag, und wir veranstalten eine kleine Party für ihn. P. ist die ganze Zeit bester Laune. Ihre Stärke fasziniert mich. Ich bin als Ungeheuer aus der Tiefe der Star des Nachmittags. Horden von Kindern flüchten kreischend vor mir. Hin und wieder fange ich doch eins und verspeise es mit Vergnügen – das Gekicher und die sich windende Masse des biegsamen Kindes –, bis ein kleines Mädchen sich in die Hose macht. Ende des Ungeheuers. Die Kinder gehen früh schlafen, und in gewohntem Schweigen essen P. und ich allein zu Abend. Sogar das Personal geht wie auf Scherben. Das Mahl ist beendet. Das Hauspersonal verabschiedet sich zur Nacht. Wir sind allein. Ich nippe an einem Brandy und rauche, mache meine üblichen Bemerkungen über ihr Verhalten in jüngster Zeit, und diesmal schlägt sie mit beiden Fäusten auf den Tisch. Es ist wie ein Gewehrschuss. Ihre Augen werden schmal, und sie beugt sich über den Tisch zu mir.
P.: Ich weiß, dass du es warst.
Ich: Was?
P.: Ich weiß, dass du dafür verantwortlich bist.
Ich: Wofür?
P.: Für seinen Tod?
Ich: Wessen Tod?
P.: Du bist so kalt wie die Landschaften, die du früher gemalt hast. Diese zu Eis erstarrte Ödnis. Du hast kein Herz, Francisco Falcón. Du bist leer, du bist kalt und du bist ein Mörder.
Ich: Ich habe dir meine Vergangenheit doch schon gestanden.
P.: Oh, möge Gott mir verzeihen, ich hätte besser zuhören sollen. Ich hätte auf meinen Vater hören sollen. Ich hätte deine eisigen Hände nie in meine Nähe lassen sollen. Du bist ein brutaler Schläger. Du bist das perfekte Ungeheuer. Es ist mir eiskalt über den Rücken gelaufen, als ich dich heute mit den Kindern gesehen habe, denn das bist du, das ist das, was …
Ich: Wovon redest du, Pilar?
P.: Ich werde es dir offen ins Gesicht sagen, wenn du es wünschst.
Ich: Ich wünsche es.
P.: Du hast Tariq Chefchaouni ermordet.
Ich: Wen?
Ihre Verachtung schlägt über mir zusammen.
P.: Du weißt, dass ich keine Idiotin bin. Als du mir den Ring geschenkt hast und dann die Knochenskulptur … hast du gedacht, ich wüsste nicht ganz genau, was du tust? Aber es hat mich nicht aufgehalten, Francisco. Es hätte mich nie davon abgehalten, die wahre Leidenschaft eines Mannes zu genießen, der mehr Genie in seinem kleinen Finger hat als du in deiner ganzen verlassenen Seele.
Die Worte prasseln auf mich nieder wie Knüppelschläge, von denen jeder ein lebenswichtiges Organ oder tragendes Gelenk trifft.
P.: Also sag mir, Francisco, warum hast du ihn ermordet? Ich kann nicht glauben, dass du es getan hast, weil er … mich gevögelt hat. Oder doch? Hast du es getan, weil er deine Frau beglückt hat, während du Spielchen mit dieser reichen Hure gespielt oder dich mit deinen Kumpeln aus dem La Mar Chica an jungen Männern vergangen hast? War es das? Wann haben wir uns zum letzten Mal geliebt? Haben wir das je getan?
Ich: Du treibst es zu weit, Pilar.
P.: Ich treibe es zu weit für dich, ja? Ich spreche als die Mutter deiner Kinder. Sie sagt dir, was du bist. Du bist untreu. Du bist ein Arschficker. Komm, leugne es doch!
Ich: So redest du nicht mit mir.
P.: Doch, das tue ich. Ich sage es dir, Francisco. Es wird alles herauskommen. Alles … bis hin zu der Tatsache, dass du selbst in unserer Hochzeitsnacht mit diesem widerlichen Kerl … ich bringe es nicht über mich, seinen Namen auszusprechen … unterwegs warst, um junge Männer zu schänden.
Ich: Wer hat dir das erzählt?
P.: Ich erfahre alles. Es kommt alles zu mir zurück. Ich weiß alles, Francisco. Ich weiß sogar, warum du mich geheiratet hast, du brutaler, herzloser Klotz.
Ich: Warum habe ich dich denn geheiratet?
P.: Weil du gedacht hast, ich könnte dein Genie wieder erwecken, mit mir würde es blühen und gedeihen. Aber Genie, Francisco, ist etwas Gottgegebenes. Man hat es dir angeboten. Du hast einen Blick darauf geworfen. Du hast genommen. Und was hast du damit gemacht? Du hast es verkauft. Und deswegen ist Gott nie zu dir zurückgekehrt. Er hat dich als die puta erkannt, die du bist.
Ich: Halt’s Maul! Halt’s Maul! Halt’s Maul!
P.: No, no, no, que no! Dies ist das Ende, Francisco Falcón. Und du wirst es
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