Der Blinde von Sevilla
mit der unwiderruflichen chirurgischen Verstümmelung und mit ihren letzten Augenblicken wahren Glücks – brutal entstellt durch die hinzugefügte Tonspur.
»Und ich? Was wirst du mir zeigen?«, fragte Falcón, während er sich an einen letzten Augenblick des Glücks zu erinnern versuchte. »Auf welches Glück habe ich verzichtet?«
»Ich werde dir für einen Moment die Augen verbinden«, sagte die Stimme. »Wenn ich dir die Maske wieder abnehme, wirst du es sehen.«
Ein elastisches Band schnappte an seinen Hinterkopf, und die weiche Dunkelheit einer gepolsterten Maske senkte sich über ihn. Es war wunderschön in der samtigen, wattierten Finsternis, und ihm kam der Gedanke, dass er nie wieder daraus auftauchen wollte. Irgendetwas wurde auf den Schreibtisch gestellt, und sein Stuhl wurde nach vorne geschoben. Ein Adrenalinstoß fuhr durch seine Adern, Panik loderte in ihm auf, schien sein Blut zu verdünnen und zu Äther abzukühlen. Ihm war kalt, und er zitterte. Die Maske wurde behutsam gelöst, doch Falcón hielt die Augen fest geschlossen.
»Mach die Augen auf, Javier«, sagte die Stimme. »Du weißt besser als jeder andere, was passiert, wenn du sie nicht aufmachst. Es ist wirklich nichts Schlimmes.«
»Ich werde sie öffnen. Lass mir nur ein wenig Zeit.«
»Es ist ein ganz alltäglicher Anblick.«
»Sogar du weißt, dass es nicht darum geht, was auf dem Tisch steht«, sagte Falcón. »Es geht um das, was in meinem Kopf ist.«
»Mach die Augen auf. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Ich mache sie ja auf.«
»Sonst zwinge ich dich dazu. Du weißt, dass ich dich dazu zwingen werde.«
Falcón spürte, wie sich ein Arm um seinen Kopf legte und ihn nach hinten zog, bis sein Hals so gespannt war, dass er nicht schreien konnte. Er spürte die Berührung. Es war wie Eis. Das kalte Brennen der gefühllosen Klinge. Etwas Warmes sickerte über seine Wange, dicker als Schweiß oder Tränen. Er riss die Augen auf.
Auf dem Tisch stand ein Glas weiße Milch. Er wollte zurückweichen, doch es war zu spät, das Bild hatte sich in seinen Verstand gebohrt wie ein Glassplitter. Er hatte keine Ahnung, warum er solche Angst davor hatte. Es gab keinen logischen Grund für die Panik, die von Synapse zu Synapse blitzte, von Nerv zu Nerv, bis sein ganzer Körper so heftig zuckte und bebte, dass der Stuhl wackelte.
Die Maske wurde ihm wieder vorgelegt und sperrte die alberne Realität eines Glases Milch aus. Eine Hand strich über sein Haar, als jemand an ihm vorbeigriff.
»Einatmen.«
Er atmete einen Duft von widerlicher, Ekel erregender Sättigung ein. Schwefelgeschmack stieg ihm in den Mund, am ganzen Körper brach ihm kalter Schweiß aus, und dann musste er sich übergeben.
Der Geruch verschwand, das Glas wurde wieder auf den Schreibtisch gestellt. Der Mann setzte sich hinter ihn.
»Ich wusste, dass du tapfer sein würdest«, sagte die Stimme.
»Ich fühle mich aber nicht tapfer«, sagte Falcón, immer noch keuchend und Erbrochenes ausspuckend.
»Was hast du gerochen?«
»Mandeln und Milch«, sagte er. »Woher weißt du, dass ich Mandeln und Milch hasse?«
»Wer hat jeden Abend vor dem Schlafengehen Mandelmilch getrunken?«
»Ich glaube, es war meine Mutter.«
»Du weißt , dass es deine Mutter war«, sagte die Stimme. »Und wer hat ihr jeden Abend ihre Mandelmilch gebracht?«
»Das Hausmädchen hat sie …«
»Nein, sie hat sie für sie gemacht. Aber wer hat sie ihr gebracht ?«
»Ich nicht«, sagte er schnell und wie ein Kind instinktiv lügend. »Ich war es nicht. Es war Manuela.«
»Weißt du, warum dein Vater dich gehasst hat?«
Falcón ließ elend den Kopf hängen, schüttelte ihn heftig von einer Seite zu anderen und leugnete es, leugnete alles, was ihm in den Sinn kam.
»Warum hat dein Vater dich dazu gebracht, ihn zu lieben?«
»Ich verstehe dich nicht mehr.«
»Sei still, Javier. Ich werde dir eine Geschichte vorlesen, genau wie dein Vater immer vor dem Schlafengehen. Was soll es heute Abend sein? Ja, heute Abend gibt es: ›Eine kleine Geschichte des Schmerzes, die zu deiner werden wird.‹«
3. Januar 1961, Tanger
Seit sechs Tagen sitze ich vor P. und beobachte, wie ihr Gesicht sich zu Asche verwandelt. Nur die Kinder bringen ein wenig Leben in ihr Wesen. Ich frage sie, was los ist, und sie antwortet jedes Mal das Gleiche: »Nada, nada.« Ich komme an T.C.s Werkstatt vorbei. Die Mauern stehen noch, die Türe ist ausgebrannt, und das Dach ist verschwunden. In dem Café, das T.C. regelmäßig
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