Der Blinde von Sevilla
sich auf Javiers Höhe, und er weist mit dem Finger auf Javier, wie mit einer Pistole.
»Du weißt, warum Mercedes nicht zurückkommt, oder Javier?«
Javier war stumm ob des doppelten Schmerzes, in seinem verdrehten Arm und, wie ich erkennen konnte, wegen der bleiernen Leere seiner größten Angst.
»Das ist sehr wichtig«, sagte ich und zog ihn an mich, sodass sein verzerrtes Gesicht direkt vor meinem war. »Du darfst niemandem verraten, wo ich meine Tagebücher aufbewahre. Das ist mein Geheimnis. Ich möchte, dass du das nicht vergisst … Ab jetzt, Javier, gibt es keine Tagebücher mehr.«
Auf dem Flur vor dem Arbeitszimmer seines Vaters betrachtet er seinen Arm. Tränen treten in seine Augen und kullern über sein glattes Gesicht. In seinem Mund steht der Speichel, und er weiß, dass Mercedes nie mehr zurückkommen wird. Nie mehr wird ihr Duft ihn umhüllen, wenn er unter den Laken liegt. Nie wieder werden seine kleinen Finger die Konturen ihrer Ohren nachzeichnen. Und es ist seine Schuld. Er hätte es ihr nie sagen dürfen. Er rennt los, den Flur hinunter, die Treppe hinauf, und wirft sich auf sein Bett, doch die schwarze Leere dieser Erkenntnis bleibt genauso bei ihm wie der brennende Schmerz seines Arms.
»Stellt das die Dinge klarer?«, fragte die Stimme, und Falcón wurde in die Realität zurückgerissen, immer noch seinen Arm betrachtend, als würde er die Verletzung untersuchen, die er vor all den Jahren erlitten hatte.
»Er hat mich trotzdem geliebt«, platzte Falcón heraus. »Er hat mich nur gewarnt, aber er hat mich trotzdem geliebt. Wir haben nicht all die Jahre zusammengelebt …«
»Du willst es immer noch nicht glauben. Das kann ich verstehen, Javier. Es ist schwer, so etwas aufzugeben … wie das Leben selbst … bis es vollkommen unerträglich wird. Bis die eigenen Handlungen …«
»Wer bist du?«, unterbrach Falcón ihn. »Wer bist du, verdammt noch mal?«
»Ich bin deine Augen«, sagte die Stimme. »Durch mich wirst du sehen lernen. Wie tapfer bist du, Javier?«
Er schüttelte den Kopf, kein bisschen tapfer, noch immer niedergedrückt von Mercedes’ Tod, der auf seinem Gewissen lastete, und voller Angst vor dem neuen Grauen, das ihn erwartete.
»Du hast Angst, Javier, stimmt’s? Du hast Angst vor dem, was du sehen wirst.«
Sein Gesicht erbebte unter den Fesseln.
»Was hast du den anderen gezeigt … Raúl und Ramón?«, fragte Falcón, verzweifelt bemüht, den Augenblick hinauszuzögern. »Was hast du gefunden, was so grausam war?«
»Das musst du doch inzwischen wissen«, sagte die Stimme. »Ich habe ihnen gar nichts Grausames gezeigt. Keine verlassenen Kinder oder toten Babys. Keine vergewaltigten Mädchen oder erwürgte, missbrauchte Jungen. So etwas kann man in den Nachrichten sehen, im Kino, in Zeitschriften, im Internet oder im Fernsehen. Wir sind abgestumpft gegenüber der Brutalität der Menschheit. Uns kann nichts mehr entsetzen. Hast du die Bilder gesehen, die Ramón Salgado auf seinem Computer hatte? Hast du gesehen, was Raúl Jiménez sich angesehen hat, während er seine puta bumste? Diese Männer waren überaus versiert im Grauen. In dieser Richtung konnte ich ihnen nichts Neues mehr zeigen.«
»Was hast du ihnen dann gezeigt?«
»Ich habe ihnen das Glück gezeigt, auf das sie verzichtet haben.«
»Das Glück?«
»Arturo, der mit Marta am Strand spielt. Sie hat ihn gekitzelt, gekitzelt, bis er es nicht mehr aushalten konnte. Ich habe eine Tonspur darunter gelegt. Hat Manuela das je mit dir gemacht? Dich beinahe zu Tode gekitzelt? Gekitzelt, bis es kein Kitzeln mehr war, sondern Folter. Oh, der Verstand spielt einem so üble Streiche, Javier … nach Jahrzehnten der Leugnung.«
»Und Ramón? Was hast du Ramón gezeigt? Seine glückliche Ehefrau …«
»Ich nehme an, Raúl hat ihm die Aufnahmen zur Hochzeit geschenkt. Das glücklich verheiratete Paar, Ramón und Carmen. Hast du dir die Tonbänder angehört?«
Falcón nickte.
»Es gab ein weiteres Band, das ich mitgenommen habe. Carmen hat darauf gesungen. Ihre Stimme war nicht besonders gut, aber sie hat für Ramón gesungen … eine Liebesarie. Am Ende hat Ramón applaudiert, und ich konnte die Emotion in seiner Stimme hören. Ich habe es ein wenig verändert. Bei mir gab es keinen Beifall … nur die letzten drei verzweifelten Schreie – ›Ramón! Ramón! Ramón!‹«
Die grausame Feinheit dieser Folter ließ Falcón erschauern. Die Männer hatten sich mit einem doppelten Grauen konfrontiert gesehen:
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