Der blutrote Kolibri
gebrochenem Kiefer. »Fneller!«
Eins war Animaya klar: In dem engen Treppenschacht war es unmöglich, dem Oberbefehlshaber auszuweichen. Wenn er ihnen hier entgegenkam, hatten sie keine Chance.
Pillpa stolperte. Animaya fing ihre Freundin auf. Noch immer war sie auÃerstande, einen klaren Plan zu entwerfen. Da war es ihr, als würde das verschrumpelte Herz der Albina in ihrer Tasche klopfen.
»Ins Verlies!«, zischte sie Natan zu.
Natan, schon ein paar Stufen voraus, sprang wieder zurück und lief an ihr vorbei in den Folterraum.
Animaya zog Pillpa hinter sich her. Dort angekommen, winkte Natan sie zu einem groÃen Hauklotz, hinter dem sie sich verstecken konnten. Keiner gab einen Laut von sich. Bange Sekunden vergingen.
Animaya spürte Kapnu Singa, noch bevor sie ihn sah. Oder vielmehr seine unsichtbaren Krallen, die sich nach ihr ausstreckten. Ich kriege dich!, hallte seine kalte Stimme durch ihren Schädel.
Hastig zog Animaya die Kette aus ihrem Kleid. Nebel wallten in dem milchigen Anhänger auf. Wisyas weiÃe Magie traf auf Kapnu Singas schwarze. Animaya hoffte, dass Wisyas Amulett auch ihre Freunde schützen konnte.
Mit mächtigen Schritten, zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Kapnu Singa am Verlies vorbei. Dicht hinter ihm ertönten weitere Schritte. Wahrscheinlich die beiden Generäle, die nach ihrem Anführer geschickt worden waren.
Kaum waren ihre Schatten verschwunden, stand Natan bereits wieder auf den Beinen. Den Dolch hatte er sich zwischen die Zähne geklemmt. Schön sah er aus, dachte Animaya trotz ihrer Angst, schön und verwegen. Der Krokodilreiter reckte sich und nahm die Lumenpeitsche vom Haken.
Animaya strich sich über den Kopf. Ihr Haar war blutverkrustet, aber die Wunde war schon leicht verschlossen. Sie hakte Pillpa unter und lief los. Nur wenige Sekunden betrug ihr Vorsprung. Die Nachricht, die der verletzte General Kapnu Singa geben würde, dauerte nicht länger als ein richtungweisendes Kopfnicken. Sie mussten sich also beeilen.
Die Stufen nahmen schier kein Ende. So schnell sie konnten, hetzten Animaya, Natan und Pillpa die Treppe nach oben. Stockwerk für Stockwerk. Die Lumenpeitsche spendete ihnen ein bisschen Licht â nur Pillpa nutzte das nichts. Immer wieder musste Animaya stehen bleiben, um ihrer Freundin zu helfen. Pillpa geriet mehrfach ins Straucheln und schlug hart auf den Steinstufen auf. Bald waren ihre Arme und Knie von Schrammen übersät. Doch kein Laut verriet etwas über ihre Schmerzen.
Oben angekommen, rasselte Pillpas Atem. Sichtlich um Fas sung bemüht, tastete sie die Wand ab.
»Ich ⦠ich finde die Vertiefung nicht â¦Â«, stammelte sie hilflos.
Animaya biss die Zähne zusammen. Von den Wänden hall ten die hastigen Schritte Kapnu Singas vielfach wider. Unmög lich auszumachen, wie weit er noch von ihnen entfernt war.
Natan warf sich mit der Schulter gegen den Stein, bis die Wunde wieder aufplatzte, die ihm Anaq zugefügt hatte. Doch die Tür bewegte sich um keine Haaresbreite.
Die Schritte wurden immer lauter und bedrohlicher.
Verzweifelt fuhr Pillpa mit den Fingern die Wand auf und ab. Hin und her. Und mit einem Mal seufzte sie erleichtert auf.
»Hier ist es!«, wisperte sie. Dann klickte der geheime Mechanismus und die Tür schwang auf. Lobgesang klang ihnen entgegen.
»Das Morgengebet hat begonnen«, zischte Pillpa. »Sie müs sen gemerkt haben, dass ich fehle. Ich kann nur noch mit euch fliehen!«
Animaya warf einen kurzen Blick in den Raum. Durch das Loch im Dach oberhalb der Opferstätte schien ein Sonnenstrahl in spitzem Winkel herein. Sechs Männer in bodenlangen Gewändern aus Lamawolle standen rund um den Altar. Um sie herum bildeten etwa fünfzig blinde Tempeldienerinnen jeden Alters einen Kreis. Ein Platz zwischen ihnen war leer. Vier Generäle bewachten die Zeremonie.
»Wir schaffen das!«, flüsterte Animaya und griff nach der Hand ihrer besten Freundin. Sie versuchte, all ihre Zuversicht in diese Berührung zu legen. Dann nickte sie Natan zu. Ihre einzige Chance war, schnell zu sein und möglichst viel Verwirrung zu stiften. Und: Sie durften keinen Schritt vergeuden.
»Los!«, rief sie leise.
Gleichzeitig stürzten sich die drei Freunde in die Tempelhalle. Ehe die Generäle sie bemerkten, hatte Natan schon den Kreis der Dienerinnen erreicht. Ihre Formation löste sich auf und so keilten sie
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