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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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hätte die Goldene Maske nicht so eine Prophezeiung abgegeben.«
    Animaya nickte. »Du hast Recht. Sonst wäre unser Volk be reits verloren, die Katastrophe unabwendbar. Und Goliath der Sieger.«
    Sie suchte die Königin auf den nächsten Steintafeln. Und fand, was sie befürchtet hatte: Die Frau mit dem Diadem starb schon nach wenigen Wochen in den Minen, mit Rachegedan ken im Herzen. Über ihrem Körper schwebte ein weißer Schat ten – sie war zur Albina geworden.
    Animaya lief zur vorletzten Platte zurück. Dort war er, der stärkste aller Feinde: Goliath. Männer mit weißer Haut führten ihn an der Leine. Ein Monstrum, das Bäume fraß. Links und rechts von ihm fielen sie in Scharen. Vögel, Fische, Säugetiere aller Art lagen tot herum. Der Fluss riss Leichen mit sich fort und vergiftete sein eigenes Wasser. Eindeutig ein Ereignis, das der Goldenen Maske wichtig war.
    Ratt, ratt.
    Das Geräusch aus dem Obsidianwürfel ließ Animaya herum fahren. Was hatte er jetzt schon wieder aufgezeichnet? Mit einem flauen Gefühl im Magen raste sie zu ihm hin. Langsam schob sich die Steinplatte noch ein Stück heraus und Animayas größte Befürchtung wurde zur Gewissheit. Eine der neuen Szenen zeigte, wie sie und der Krokodilreiter aus dem Wasserbecken stiegen. Auf dem zweiten Bild hatte sich eine blinde Tempeldienerin zu ihnen gesellt. Im Saal der Wahrheit standen die Figuren einträchtig beieinander und sahen sich den Würfel an.
    Â»Wie oft kommt der Inka in den Saal?« Animaya schrie fast vor Aufregung. Wenn Tupac das sah, würde er eins und eins zusammenzählen und sie dann gnadenlos durch den Wald hetzen. Kapnu Singa würde sie früher oder später finden. Es sei denn, sie konnten die Einkerbungen auf der Platte unkenntlich machen.
    Â»Jeden Morgen, vor dem Appell«, verriet Pillpa. »Warum willst du das wissen?«
    Animaya antwortete nicht. Sie griff nach einem Hammer, der für die Dienerinnen zum Behauen der Plattenränder bereitlag, holte aus und ließ ihn auf ihr Abbild niedersausen.
    Bamm!
    Ein gleißender Blitz durchzuckte Animaya und sie flog in hohem Bogen rückwärts durch die Luft. Mit ungeheurer Wucht knallte sie gegen eine Wand. Wie betäubt blieb sie am Boden liegen, schnappte keuchend nach Luft.
    Als sie die Augen wieder öffnen konnte, tanzten Sterne durch die Halle. Irgendwo dazwischen bewegten sich die Gesichter von Natan und Pillpa. Und während sich ihr Blick wieder schärfte, kam ihr ein unglaublicher Gedanke: Der Thronfolger musste von einem anderen Stamm gefunden und aufgezogen worden sein. Er lebte noch, aber nicht als Angehöriger ihres Volkes. Vielleicht als Spinnenmensch, ohne zu wissen, dass ihm die Krone Paititis gebührte.
    Â»Das darfst du nicht tun«, sagte Pillpa besorgt und strich Animaya eine Strähne aus dem Gesicht. »Niemand kann die Vergangenheit ändern. Nur die Zukunft.«
    Natan half Animaya auf. Ihr Rückgrat brannte wie Feuer. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, den Hammer noch immer fest umklammernd.
    Â»Wir müssen hier raus!«, wisperte Animaya. »So schnell wie möglich! Wenn Tupac die neue Platte sieht, sind wir alle drei tot.«
    Hörte sie es wirklich oder war es nur ihre innere Uhr, die seit vierzehn Jahren auf dieses Signal geeicht war? Draußen über der Stadt drehten die Papageien krächzend ihre Runde. Die Aufstehsperre war vorbei.
    Humpelnd näherte sie sich dem Würfel. In diesem Moment wurde die steinerne Tür aufgestoßen. Hände stellten einen Tragstuhl ab. Tupac, der gottgleiche Inka selbst, stieg mühevoll heraus, warf seinen bodenlangen Schleier ab und betrat die Halle.

TUPAC
    Wie vom Donner gerührt stand Animaya neben dem Würfel. Noch nie hatte sie den Inka ohne ein Tuch über dem Gesicht gesehen. Bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten trugen ihn die Generäle in seiner Sänfte durch Paititi. Zu keiner Zeit wussten seine Untertanen, ob Tupac selbst oder jemand anders hinter dem Vorhang mit den Goldfäden saß. Der unerreichbare Herrscher war plötzlich zum Greifen nahe, nur fünfzig Schritte von ihr entfernt.
    Tupac war klein und ging gebückt, was nicht an dem überreichen Goldschmuck lag, der ihm durch Ohrläppchen und Nasenwand gestochen war, sondern an seinem krankhaft gekrümmten Rücken. Der große Inka war gezwungen, mit zum Boden gerichtetem

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