Der Brenner und der liebe Gott
gerade alles aus dem Weg geräumt gehabt. Da ist auf einmal die Helena entführt worden. Wir haben geglaubt, der Knoll steckt dahinter. Und der Knoll hat geglaubt, wir stecken dahinter. Und jetzt sagen Sie mir, es war gar keine richtige Entführung. Aber inzwischen sind vier Menschen tot.«
»Sechs«, hat der Brenner gesagt. »Wenn man den Milan und den Mann der Tagesmutter mitzählt.«
»Der Stachl wollte mich daran hindern, dass ich Sie wieder heraufziehen lasse. Er hat gesagt, es ist schon zu viel passiert. Dass die Helena auch sein Kind war, das war ihm völlig egal.«
»Vielleicht hat er es gar nicht gewusst?«
Dazu hat der Kressdorf nichts gesagt. Ich glaube fast, es war ihm jetzt auch egal.
Wie sie gegenüber der Tankstelle vor dem Haus der Südtirolerin angekommen sind, hat der Brenner immer noch nicht gewusst, wie er verhindern soll, dass der gedemütigte Nichtvater ihn und die Südtirolerin auch noch umbringt, damit er die Geschichte ungeschehen machen kann und seine Tochter nicht nur als Person, sondern auch mit Haut und Haar zurückbekommt, quasi genmäßig.
Jetzt zu deiner Beruhigung. Die Südtirolerin war wenigstens nicht da.
Jetzt zu deiner Beunruhigung. Das Kind war auch nicht da.
Nachdem sie auch das letzte Zimmer durchsucht haben, hat der Brenner versucht, den Kressdorf davon zu überzeugen, dass er ihn nicht angelogen hat. Er hat ihm erklärt, dass die Südtirolerin wahrscheinlich zur Polizei gegangen ist, nachdem er nicht wie versprochen zurückgekommen ist. Der Brenner hat selber nicht recht daran geglaubt, und dabei hat sich später herausgestellt, dass das wirklich gestimmt hat. Aber dann hat der Kressdorf etwas getan, was dem Brenner eine solche Angst eingejagt hat, dass ihm dagegen das Abgeseiltwerden vom Holzbalkon wie eine Attraktion im
Riesenland
vorgekommen ist.
Du musst wissen, der Kressdorf hat sich mit seinem Jähzorn beruflich und privat schon so oft geschadet, dass er irgendwann zu diesem uralten Trick gegriffen und grundsätzlich in haarigen Situationen innerlich von zehn rückwärts gezählt hat. Aber jetzt war der Kressdorf schon so außer sich, dass er hundert Stunden nach dem Verschwinden seiner Tochter auf das »innerlich« vergessen und nicht bemerkt hat, dass er zwar schön rückwärts zählt, aber laut.
»Zehn.«
Wenn das ein erwachsener Mensch einfach so macht, ist es vielleicht schon ein bisschen gespenstisch, aber wenn er schon vier Menschen in einer Senkgrube deponiert hat und wenn du ihn nur mit dem rechten Ohr zählen hörst, weil in deinem linken Ohr der Lauf seines Jagdgewehrs steckt, dann hast du genau die Situation vom Brenner.
»Neun.«
Der Kressdorf hat tief eingeatmet, tief ausgeatmet, tief eingeatmet. »Acht.«
Der Brenner gar nicht geatmet. »Sieben.«
Jetzt während der Kressdorf so langsam rückwärts zählt, damit er nicht aus seinem Jähzorn heraus einen Fehler macht, kann ich dir noch schnell was anderes verraten. Pass auf. Wie sind sie überhaupt in die Wohnung hineingekommen? Die Südtirolerin hat dem Brenner ja nicht den Wohnungsschlüssel gegeben. Und ein Kressdorf ist kein Türaufbrecher. Diese Art von Full-Service-Verbrecher war der ja nicht, wo man sagt, Handwerk von der Pike auf gelernt, der kann alles vom Fahrradschloss bis zum sauberen Nierenstich. Der Kressdorf hat nur die Brutalität gehabt, die Geradlinigkeit, die Kompromisslosigkeit, was man eben so auf der Wirtschaftsuniversität des Lebens lernt, aber Handwerk und Können null. Der ist vor einer versperrten Tür gestanden wie die Kuh vorm Tor.
Umgekehrt der Brenner. Den hätte er zwingen können, also Waffe an die Schläfe, und brich die Tür auf. Aber erstens ist der Brenner im Türaufbrechen auch nie besonders gut gewesen, dem haben sie schon in der Polizeischule den Vierer in Türaufbrechen geschenkt. Und vor allem: Wieso soll der Brenner die Türaufbrechen, wenn er doch ein paar Mal gesehen hat, wo die Südtirolerin ihren Schlüssel versteckt. Weil sie hat gesagt, dreimal hat sie sich schon selber ausgesperrt mit dem blöden Schnappschloss, und die Einbrecher kommen sowieso hinein, also kann sie auch gleich den Schlüssel für sich selber hinterlegen. Ob du es glaubst oder nicht, im Ficus Benjamin.
»Vier.«
Du musst schon entschuldigen, wenn ich es dir so ausführlich erzähle, aber es ist einfach immer wieder beeindruckend, dass zwischen einem ganz normalen Ficus Benjamin, zwischen einem ganz normalen Türaufsperren, zwischen einem ganz normalen
Weitere Kostenlose Bücher