Der Bund des Raben 02 - Jäger des Feuers
es fruchtbares Ackerland und viel Vieh, und dort herrschte tiefer Frieden. Im Augenblick jedenfalls.
Entscheidungen mussten getroffen werden, doch vorher galt es, einige Fragen zu stellen.
Tessaya wandte sich nach links und stieg einen Hang hinauf. Auf dem Hügel hatten die Verteidiger von Understone ihre Kasernen errichtet, die jetzt als Gefängnis dienten. Zwei Dutzend Baracken aus Segeltuch, das man auf Holzrahmen gespannt hatte, jeweils für zweihundert Mann gebaut. Sechs davon beherbergten etwa dreihundert Gefangene, sodass noch genug Raum für seine Männer vorhanden war, oder jedenfalls für diejenigen, die hier einquartiert werden wollten.
Männer und Frauen waren voneinander getrennt worden, und die verletzten Wesmen lagen neben den Verwundeten aus Ost-Balaia. Sie mochten Feinde gewesen sein, doch sie hatten eine ehrenhafte Behandlung verdient und sollten die Chance bekommen weiterzuleben, nachdem sie
nicht den Weg des Feiglings gegangen waren, nicht kapituliert, sondern mutig gekämpft hatten.
Als er sich den Gebäuden näherte, bemerkte er erfreut die Haltung der Wachen. Bolzengerade waren sie in gleichmäßigem Abstand rings um die Hütten der Gefangenen aufgestellt. Er nickte dem Mann zu, der ihm die Tür öffnete.
»Mein Lord«, sagte der Mann und neigte ehrerbietig den Kopf.
Die Baracke war überfüllt, die Luft im Innern stickig und heiß. Die Männer hatten sich auf den Kojen und auf dem Boden ausgestreckt, einige spielten Karten, andere steckten die Köpfe zusammen und redeten. Eines aber verband sie alle. Es war die Tatsache, dass sie besiegt worden waren. Die Erniedrigung, sich feige ergeben zu haben.
Als Tessaya eintrat, breitete sich Schweigen in der Hütte aus, bis alle ihn anstarrten und darauf warteten, dass er über ihr Schicksal entschied. Die Verachtung, mit der er sie betrachtete, war beinahe körperlich spürbar.
»Es ist Zeit zu reden«, sagte er im Dialekt des Ostens, den er perfekt beherrschte. Ein Mann drängte sich nach vorn. Er hatte graue Haare, war dick und zu klein, um ein Krieger zu sein. Früher mochte er stark gewesen sein, doch jetzt war seine vom Schlamm bespritzte Rüstung nicht beeindruckender als ein Stück Walfischspeck.
»Ich bin Kerus, der Garnisonskommandant von Understone. Du kannst mir deine Fragen stellen.«
»Ich bin Tessaya, der Lord der geeinten Stämme. Du wirst mich mit ›mein Lord‹ anreden.« Kerus sagte nichts, sondern neigte nur leicht den Kopf. Tessaya sah die Furcht in seinen Augen. Der Mann hätte schon längst unter die Erde befördert werden sollen. Es war typisch für den verweichlichten Osten, dass man einem Bürokraten das Kommando
über die wichtigste taktische Position in ganz Balaia anvertraut hatte.
»Ich bin überrascht, dass du der Sprecher bist«, sagte Tessaya. »Hat dein Kommandant solche Angst vor uns, dass er dir immer noch befiehlt, ihn zu verstecken?«
»Der General, der Understones Verteidigung befehligt hat, ist tot, mein Lord«, sagte Kerus überrascht. »Ich bin der ranghöchste noch lebende Offizier.«
Tessaya runzelte die Stirn. Seine Spione hatten ihm zugetragen, dass die Armee sich, lange bevor der Kommandoposten eingenommen worden war, ergeben hatte. Vielleicht trafen auch die anderen Gerüchte zu, und Darrick war im Kampf an vorderster Front gefallen, doch dies schien bei einem so wichtigen Einsatz unwahrscheinlich.
»Er ist tot?«
»Er ist am westlichen Ausgang des Passes gefallen.«
»Ah.« Tessaya runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. »Es spielt keine Rolle.« Er wollte der Sache später auf den Grund gehen, denn er musste unbedingt herausfinden, was aus Darrick geworden war. »Nun befriedige meine Neugierde. Gab es einen Ausfall in meine Gebiete, bevor wir den Understone-Pass zurückerobert haben?« Er wusste, dass es einen solchen Vorstoß gegeben hatte, doch es konnte nicht schaden, in Erfahrung zu bringen, wie viele Kämpfer daran beteiligt gewesen waren.
»Warum fragt Ihr mich das, mein Lord?«, erwiderte Kerus.
»Weil du der ranghöchste Offizier bist. Außerdem bist du mein Gefangener. Ich würde dir dringend raten, dich nicht zu sperren.«
»Ihr wisst so gut wie ich, dass unsere Leute in die Zitadelle Eurer Wytchlords eingedrungen sind. Deshalb habt
Ihr ja auch Eure Magie verloren.« Kerus schaffte es sogar, höhnisch zu grinsen.
»Aber diese Schlacht hier haben wir nicht verloren, oder, Kerus?« Nun war es an Tessaya, höhnisch zu grinsen. »Dies ist das zweite
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