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Der Cellist von Sarajevo

Titel: Der Cellist von Sarajevo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Galloway
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von den Männern auf den Bergen nicht aufhalten lassen. Das hier sind seine Straßen, und er wird sie begehen, wie es ihm passt. In knapp vier Stunden wird der Cellist zum letzten Mal spielen.
    Er zieht seinen Mantel zurecht, schüttelt ein Bein aus, das eingeschlafen ist. Der Himmel bewölkt sich allmählich, und die Luft ist etwas frisch geworden. Er tritt auf die Kreuzung. Seine Schuhe scharren über den Asphalt, und irgendwo in der Nähe wird ein Automotor hochgejagt. Ein kleiner Vogel fliegt über ihm. Dragan bemerkt, dass er nicht rennt. Er weiß, dass er rennen sollte, ist sich bewusst, dass der Heckenschütze wahrscheinlich immer noch auf der Lauer liegt. Er könnte ihn in diesem Moment im Visier haben. Er muss lediglich den Abzug durchdrücken, dann wäre er tot.
    Doch sosehr sein Verstand auch drängt, seine Füße wollen ihm nicht gehorchen. Er kann nicht rennen. Gemessenen Schrittes überquert er die Straße, geht an der Stelle vorbei, wo Emina angeschossen wurde, auf die andere Seite zu. Er könnte irgendeine Straße auf der Welt entlanglaufen. Für einen zufälligen Beobachter ist er nur ein alter Mann, der spazierengeht.
    Das allerdings ist ein Trugschluss. Dragan hat Angst, hat sich noch nie so gefürchtet. Aber er kann sich nicht dazu zwingen, schneller zu laufen. Nach einer Weile versucht er es gar nicht mehr. Er hat den Blick auf das sichere Areal gerichtet, auf das er zugeht, und versucht an nichts anderes zu denken, als einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    Allmählich begreift er, warum er nicht rennt. Wenn er nicht rennt, lebt er wieder. Das Sarajevo, in dem er wohnen möchte, lebt wieder. Wenn er rennt, spielt es keine Rolle, wie viele Tote auf der Straße liegen. Vielleicht halten ihn die Leute für übergeschnappt, glauben, er wäre verrückt geworden und mache sich nichts mehr daraus, ob er am Leben bleibt oder stirbt. Sie irren sich. Er macht sich mehr denn je daraus.
    Er hat geschlafen, seit der Krieg ausbrach. Das weiß er jetzt. Weil er sich gegen den Tod gewehrt hat, ist ihm sein Leben entglitten. Er denkt an Emina, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um jemandem, dem sie nie begegnet ist, abgelaufene Medikamente zu bringen. An den jungen Mann, der auf die Straße gerannt ist, um sie zu retten, als sie angeschossen wurde. An den Cellisten, der für die Opfer eines Mörserangriffs spielt. Er könnte jetzt rennen, aber er tut es nicht.
    Er wartet auf den Schuss, auf die Kugel, die ihn treffen wird. Aber sie kommt nicht. Er ist einerseits überrascht, andererseits aber auch nicht. Man weiß es einfach nicht. Es spielt keine Rolle. Wenn sie kommt, dann kommt sie. Wenn nicht, gehört er zu denen, die Glück haben.
    Dragan erreicht die andere Straßenseite. Es hat nicht lange gedauert, aber ihm kommt es vor, als wäre ein Gutteil seines Lebens vergangen. Es ist gut, dass der Kameramann weg ist. Er weiß, dass er ein armseliges Bild im Fernsehen abgegeben hätte. Ein alter Mann, der eine Straße überquert, ohne dass etwas passiert. Das ist kaum eine Nachricht wert.
    Er geht nach Westen, in Richtung Bäckerei. In zehn Minuten müsste er da sein. Aber dann stößt seine Hand auf ein kleines Plastikfläschchen mit Tabletten, das er in der Hosentasche hat, und er weiß, dass es ein bisschen länger dauern wird. Etwa eine halbe Stunde. Er wird sein Brot abholen und dann auf diesem Weg zurückgehen, egal, ob ein Heckenschütze da ist oder nicht. Auf dem Heimweg wird er einen kleinen Umweg zu der Straße südlich vom Markt machen und bis vier Uhr warten, damit er Emina erzählen kann, was am letzten Tag geschehen ist, an dem der Cellist gespielt hat.
    Dragan lächelt, als er an einem älteren Mann vorübergeht. Der Mann schaut ihn nicht an, hat den Blick auf den Boden gerichtet.
    »Guten Tag«, sagt Dragan frohgemut.
    Der Mann blickt auf. Er wirkt überrascht.
    »Guten Tag«, wiederholt Dragan.
    Der Mann nickt, lächelt und wünscht ihm das Gleiche.

Strijela
    Strijela zwinkert. Sie wartet schon lange. Sie hat gut geschlafen, ist während der Nacht nicht einmal aufgewacht. Sie hat nur auf ein Geräusch gehorcht, und jetzt hört sie es. Schritte hallen draußen im Flur wider, schwere Stiefel, die die Treppe heraufkommen. Sie bemühen sich darum, leise zu sein, aber das Treppenhaus kommt ihnen nicht entgegen, seine Akustik widersetzt sich den Absichten der Männer, die auf Heimlichkeit bedacht sind. Strijela öffnet die Augen. Es ist noch früh am Morgen, kurz vor sieben Uhr.
    Zehn Tage ist es

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