Der Cellist von Sarajevo
herum. Offenbar findet der Kameramann das Gesuchte und kehrt zu dem Apparat zurück. Dragan weiß, dass die Kamera gleich laufen wird, aber er will nicht, dass der Tote auf Film gebannt wird.
Er möchte durchaus, dass die Außenwelt erfährt, was hier geschieht. Auch er ist der Meinung, dass man eher eingreifen wird, wenn man mit ansehen muss, wie Unschuldige leiden. Aber die Szene, die der Kameramann auf Film bannen will, gibt in keinster Weise das wieder, was heute hier geschehen ist. Es sind nur die Nachwirkungen.
Ein Toter wird niemanden beeindrucken. Er ist eine Kuriosität, aber solange man ihn nicht kennt, hat er gar nichts zu bedeuten. Nichts an einem Toten deutet darauf hin, wie es war, am Leben zu sein. Niemand wird erfahren, ob der Mann ungewöhnlich große Füße hatte, womit seine Freunde ihn immer aufgezogen haben, als er noch ein Kind war. Niemand wird etwas von der Narbe an seinem Rücken erfahren, die er sich zugezogen hat, als er von einem Baum fiel, oder dass seine Leibspeise Schokoladenkuchen war. Man wird nicht erfahren, dass er mit seinen Schulfreunden verreist ist, als er achtzehn war, bis nach Spanien getrampt ist, wo er mit einem blonden Mädchen schlief, dessen Nachnamen er nie erfahren hat, und dass er in den nächsten dreißig Jahren oft daran gedacht hat, immer bei den seltsamsten Anlässen, wenn er eine Orange schälte, ein Messer schliff oder im Regen auf einen Berg stieg.
Dann gibt es Sachen, über die man nicht spricht, wenn jemand tot ist. Man sagt nicht, dass jemand aufbrausend war oder manchmal beim monatlichen Kartenspiel betrogen hat. Er war geizig. Wenn er getrunken hatte, war er grausam.
All das wird nie wieder ausgesprochen werden, es ist einfach vergangen. Aber das sind die Dinge, deretwegen man um einen Toten trauert. Es geht nicht nur um die Vergänglichkeit des Fleisches. Das lässt sich mit einem Achselzucken abtun. Wenn der Tote auf der Straße den Menschen in aller Welt in den Abendnachrichten gezeigt wird, werden sie genau das tun. Sie äußern sich vielleicht über das Grauen, aber höchstwahrscheinlich werden sie sich gar nichts dabei denken, wie ein Hund, der irgendwo hinwill.
Dragan schaut auf den Toten. Er kennt seinen Namen nicht, kann sich sein Gesicht nicht vorstellen. Er weiß gar nichts über den Mann. Alles ist reine Mutmaßung. Aber das spielt keine Rolle. Er ist dieser Mann. Oder könnte es sein. Er hat in dieser belagerten Stadt gelebt und wurde erschossen, als er die Straße überqueren wollte. Sie beide haben nichts unternommen, als Emina Hilfe brauchte.
Er wird nicht zulassen, dass dieser Tote gefilmt wird. Ihm fällt ein, was er zu Emina über den Cellisten gesagt hat, warum er seiner Meinung nach spielt. Um etwas aufzuhalten. Um Schlimmeres zu verhindern. Um alles in seiner Macht Stehende zu tun.
Als er zu dem Kameramann blickt, wird Dragan jedoch klar, dass er das Wesentliche nicht verstanden hat. Es spielt keine Rolle, was die Welt von dieser Stadt hält. Es kommt nur darauf an, was er davon hält. In dem Sarajevo, an das er sich erinnert, war es völlig undenkbar, dass ein Toter auf der Straße herumlag. Im heutigen Sarajevo ist das ganz normal. Er hat in keiner der beiden Städte gelebt, hat versucht, in einer zu leben, die es nicht mehr gibt, und wollte mit der anderen nichts zu tun haben.
Der Heckenschütze ist noch da. Er kann nicht sagen, woher er das weiß, aber es ist so. Irgendwo in den Bergen oder den Häusern von Grbavica liegt er auf der Lauer und wartet den richtigen Zeitpunkt ab. Ein Mann hat gerade die Straße überquert, ohne dass er geschossen hat. Das hat gar nichts zu bedeuten. Es ist reine Berechnung. Je länger er wartet, ehe er schießt, desto mehr Menschen wagen sich auf die Kreuzung. Dragan hält es für möglich, dass sich anhand einer Tabelle eine Wechselwirkung aus der Zeit, die zwischen den Schüssen verstreicht, und der Anzahl der Opfer darstellen lässt. Er fragt sich, ob der Heckenschütze so eine Tabelle hat, vielleicht eine kleine, in Plastik eingeschweißte Karte, die er in der Brusttasche seiner Jacke stecken hat, oder ob er es auswendig weiß.
Der Tote ist nicht weit von ihm entfernt, vielleicht fünf Meter. Es sollte ganz einfach sein, zu ihm zu laufen, seine Hände zu ergreifen und ihn von der Straße zu zerren. Zehn Schritte hin, zehn zurück. Allenfalls eine halbe Minute sollte das dauern. Möglicherweise weniger.
Er holt tief Luft und atmet wieder aus. Dann setzt er sich in Bewegung, ist auf der
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