Der Chancellor
enthalten, und man könnte es genießen! Aber uns fehlen alle Hilfsmittel, und wir vermögen sie auch nicht herzustellen.
Heute haben sich, auf die Gefahr hin, von Haien verschlungen zu werden, der Bootsmann und zwei Matrosen gebadet. Solch' ein Bad gewährt ihnen eine gewisse Erleichterung und erfrischt sie doch einigermaßen. Drei meiner Genossen und ich, – die wir nicht schwimmen können, – haben uns an ein Seil befestigt und sind wohl eine halbe Stunde lang im Meer geblieben. Robert Kurtis überwachte dabei die Wellen, und zum Glück hat sich kein Haifisch genähert. Trotz unserer Bitten und ihrer quälenden Leiden hat Miß Herbey unserm Beispiel nicht folgen wollen.
Am 14., gegen elf Uhr Morgens, nähert sich mir der Kapitän und flüstert mir in's Ohr:
»Vermeiden Sie jede Bewegung, die Sie verrathen könnte, Herr Kazallon, denn ich könnte mich irren, und ich möchte den Andern eine neue Enttäuschung ersparen.«
Ich sehe Robert Kurtis erwartungsvoll an.
»Dieses Mal, sagt er zu mir, habe ich wirklich ein Schiff wahrgenommen!«
Der Kapitän hat wohl daran gethan, mich vorzubereiten, denn ich wäre gewiß nicht meiner ersten Bewegung Meister geworden.
»Schauen Sie, fügt er hinzu, da hinten über Backbord!«
Ich erhebe mich, affectire eine mir gewiß ganzfremde Gleichgiltigkeit, und meine Augen schweifen über den mir von Robert Kurtis bezeichneten Bogen am Horizont.
Meine Augen sind freilich nicht die eines Seemannes, aber ich erkenne doch, als kaum unterscheidbare Silhouette, ein Schiff unter Segel.
Fast zu gleicher Zeit ruft der Hochbootsmann, dessen Blicke einige Secunden nach dieser Gegend hinausschweifen:
»Ein Schiff in Sicht!«
Die Meldung eines entfernten Schiffes erweckt nicht unmittelbar die Bewegung, welche man wohl hätte erwarten sollen, und bringt jedenfalls keinerlei Aufregung hervor, ob man nun an dieselbe nicht glauben wollte, oder die Kräfte schon zu sehr erschöpft waren; kein Mensch erhebt sich. Aber der Bootsmann ruft wiederholt: »Ein Schiff! Ein Schiff!« Und Aller Blicke heften sich an den Horizont.
Dieses Mal ist die Thatsache nicht zu leugnen, wir sehen es, das unerwartete Fahrzeug. Wird es auch uns sehen?
Inzwischen besprechen die Matrosen die äußere Erscheinung des Fahrzeuges und seine Richtung, vorzüglich die letztere.
Robert Kurtis erklärt nach einer aufmerksamen Betrachtung desselben:
»Es ist eine Brigg, die mit Steuerbordhalsen dicht am Winde läuft. Hält sie ihren jetzigen Cours nur zwei Stunden lang ein, so muß sie unsern Weg kreuzen.«
Zwei Stunden! – Zwei Jahrhunderte! Das Schiff kann seinen Cours aber jede Minute wechseln und wird das um so wahrscheinlicher thun, weil esoffenbar durch Laviren gegen den Wind Fahrt zu machen sucht. Bestätigt sich aber diese Annahme, so wird es nach Vollendung seines »Schlags« (d. i. die Strecke, welche ein lavirendes Schiff in ein und derselben Richtung zurücklegt) Backbordhalsen beisetzen und sich wieder entfernen. O, wenn es mit dem Wind im Rücken oder von der Seite segelte, wir hätten ein Recht, zu hoffen!
Uns handelt es sich jetzt darum, die Aufmerksamkeit jenes Schiffes zu erregen. Robert Kurtis ordnet alle möglichen Signale an, denn die Brigg ist wohl noch ein Dutzend Meilen von uns im Osten entfernt, und unsere Rufe könnten unmöglich gehört werden. Auch kein Feuergewehr steht uns zur Verfügung, dessen Detonationen so weit hin drängen. Wir wollen also eine ganz beliebige Flagge am Maste aufhissen. Miß Herbey's rothes Shawltuch sticht am lebhaftesten von der Färbung des Meeres und des Himmels ab.
Das Tuch wird möglichst hoch angebracht, und eine leichte Brise, die gerade jetzt die Oberfläche der Wellen kräuselt, entfaltet es vollständig. Sein wiederholtes lustiges Flattern erfüllt unsere Herzen mit froher Hoffnung. Wenn ein Mensch am Ertrinken ist, weiß man ja, mit welcher Kraft er sich an einen Strohhalm klammert. Die Flagge ist dieser Strohhalm für uns!
Eine ganze Stunde lang bewegen uns tausend abwechselnde Gefühle. Ohne Zweifel hat sich die Brigg dem Flosse genähert, doch bisweilen scheint es, als ob sie anhielte, und man zerquält sich mit der Frage, ob sie nicht im Begriff ist, zu wenden.
O Gott, wie langsam schleppt dieses Schiff sich hin! Es fährt mit vollen Segeln, und doch ist seinRumpf auch jetzt noch kaum über dem Horizonte sichtbar. Doch der Wind ist schwach und legt sich immer mehr!... Wir gäben ganze Jahre unseres Lebens darum, jetzt eine Stunde älter zu
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