Der Chancellor
sein!
Gegen halb ein Uhr schätzen der Kapitän und der Hochbootsmann die Entfernung des Schiffes noch auf neun Meilen. In anderthalb Stunden ist es uns demnach nur drei Meilen näher gekommen, und kaum mag der Lufthauch, der noch über dem Flosse weht, bis zu ihm reichen. Mir scheinen seine Segel gar nicht mehr zu schwellen, sondern an den Masten schlaff herab zu hängen. Ich beobachte, gegen den Wind gerichtet, ob eine Brise wieder aufspringt; aber die Wellen scheinen zu träumen, und der Athem des Windes, der unsere Hoffnungen weckte, erstirbt.
Ich befinde mich auf dem Hintertheile neben den Mrs. Letourneur und der Miß Herbey; unsere ängstlichen Blicke richten sich abwechselnd auf das Schiff und den Kapitän. Robert Kurtis steht unbeweglich vorn, an den Mast gelehnt, der Hochbootsmann dicht neben ihm; ihre Augen wenden sich keinen Moment von der Brigg ab. Von ihrem Antlitz, das jetzt ja nicht ausdruckslos bleiben kann, lesen wir die Empfindungen ab, welche sie erregen. Nicht ein Wort kommt über ihre Lippen, bis der Zimmermann mit einem gar nicht wiederzugebenden Tone ausruft:
»Es wendet!«
Unser ganzes Ich scheint sich jetzt in die Augen zusammen zu drängen, und erstarrt stehen die Einen wie Bildsäulen, die Andern liegen auf den Knien. Ein furchtbarer Fluch entfährt dem Munde des Hochbootsmannes. Auf neun Meilen Entfernung hat das Schiff unsere Signale unmöglichwahrnehmen können! Das Floß stellt ja in dem unendlichen Raume nur ein Pünktchen dar, das in dem Glanze der blendenden Sonnenstrahlen wohl ganz verschwindet! Man hat uns nicht gesehen! Könnte der Kapitän jenes Schiffes, er sei wer auch immer, wenn er uns bemerkt hätte, so unglaublich unmenschlich sein, zu entfliehen, ohne uns geholfen zu haben? Nein! Das ist unmöglich! Nein, er hat uns nicht gesehen!
»Macht Feuer! Laßt Rauch aufsteigen! ruft Robert Kurtis. Verbrennt die Planken des Flosses! Freunde! Meine Freunde! Das ist ja die letzte Möglichkeit, uns bemerkbar zu machen!«
Im Vordertheile werden einige Bretter zu einem Scheiterhaufen zusammen getragen. Nicht ohne Mühe setzen wir diese, da sie zu naß sind, in Brand, aber sie geben deshalb auch einen um so dichteren und weiterhin sichtbaren Rauch. Bald wirbelt eine schwarze Säule gerade empor. Wenn es jetzt Nacht wäre oder doch vor dem Verschwinden der Brigg dunkel würde, müßten die Flammen trotz der Entfernung bis zu jener hin erkennbar sein!
Doch – die Stunden verrinnen, das Feuer erlischt!...
Um in solchen Augenblicken sich mit frommer Ergebenheit dem göttlichen Willen zu unterwerfen, muß man mehr Macht über sich haben, als ich besitze. Nein! Jetzt schwindet mein Vertrauen auf Gott, der unsere Folterqualen durch solche aufblitzende Hoffnungsstrahlen noch erhöht, und ich lästere ihn, wie ihn der Hochbootsmann gelästert hat! ... Da legt sich eine schwache Hand ganz leise auf meine Schulter, und Miß Herbey zeigt nach dem Himmel!
Doch, ich ertrage es nicht länger! Ich mag nichts mehr sehen und vergrabe mich seufzend unter unserer Segeldecke....
Inzwischen hat das Fahrzeug andere Halsen beigesetzt, dann entfernt es sich langsam nach Osten, und drei Stunden später vermochten auch die schärfsten Seemannsaugen kein Stückchen Leinwand mehr am Horizonte zu erblicken!
XLIV.
Am 15. Januar.
– Nach diesem letzten Schlage, der uns getroffen, haben wir nichts mehr vor uns, als den Tod. Ob er schneller oder langsamer herankommen mag, er kommt doch gewiß.
Heute sind im Westen einige Wolken aufgestiegen, wobei sich dann und wann ein kurzer Windstoß fühlbar machte. Auch die Temperatur ist erträglicher, und trotz unserer äußersten Erschlaffung empfinden wir diese wohlthuende Aenderung. Meine Kehle saugt eine minder trockene Luft ein, aber seit dem Fischzug des Hochbootsmannes, d. h. seit sieben Tagen, haben wir nichts gegessen. Auf dem Flosse ist nichts mehr vorhanden, und gestern habe ich André Letourneur das letzte von seinem Vater ersparte Stück Schiffszwieback zugestellt, welches Jener mir unter Thränen übergab.
Seit gestern hat sich auch der Neger Jynxtrop seiner Fesseln zu entledigen gewußt, doch hat ihn Robert Kurtis deshalb nicht von Neuem binden lassen. Wozu auch? Dieser Elende und alle seine Mitschuldigen sind durch das lange Fasten ganz vonKräften gekommen. Was wären sie jetzt noch zu unternehmen im Stande?
Heute zeigen sich mehrere große Haifische, deren schwarze Flossen wir das Wasser mit großer Schnelligkeit durchschneiden sehen. Ich kann
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