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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Argirov Valentin
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Sie waren damals in Amerika?«
    »Ja. Hat Doktor Thimm erzählt, ich hätte ihn darum gebeten?«
    »Genau das. Er besuchte Violet jeden Tag. Er sprach ihr Mut zu und sorgte dafür, daß sie genügend Schmerzmittel bekam. Ich nahm an, er würde zu ihrer Beerdigung kommen. – Sie wollen schon gehen?«
    »Ich habe noch Dringendes zu erledigen.« Bertram fühlt sich plötzlich in diesem Zimmer beengt. Sie sind an der Wohnungstüre angelangt, als eine füllige Frau mittleren Alters erscheint. Ihr Hauskleid ist zerknittert und die Haare in Unordnung; ihre kleinen Augen verraten, daß sie gerade geschlafen hat.
    »Meine Frau«, stellt Herr Girstenbrey vor. »Sophie, das ist Herr Professor Bertram.«
    »Ach, mein Mann hat viel von Ihnen erzählt. Wollen Sie schon gehen?« fragt Frau Girstenbrey mit einer überraschend melodischen Stimme. »Alois, hast du deinen Gast gut bewirtet?«
    Herr Girstenbrey zögert. »Ich hörte, Doktor Thimm ist inzwischen Professor geworden. Das freut mich. Wir verdanken ihm viel …«
    Der Geruch im Treppenhaus, der Aufzug schaukelt. Unten stehen immer noch Kinder um seinen Wagen herum. Bertram hat es eilig, wegzukommen.

5
    Zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit Anfang der fünfziger Jahre versuchten sie, Thimm und er, bei Tieren eine Fettleber zu erzeugen. Sie spritzten weißen Mäusen steigende Alkoholmengen, dann töteten sie die Tiere und untersuchten die Vermehrung des in den Leberzellen abgelagerten Fettes. Es war eine Zeit verbissener Arbeit (tagsüber waren sie mit ihren unmittelbaren Aufgaben betraut, Stephan in der Pathologie, er als Stationsarzt einer internen Station). Ihre Nächte widmeten sie zu einem großen Teil wissenschaftlicher Forschung, die aus leidenschaftlichen Diskussionen und konsequenter Kleinarbeit bestand, aus Mißstimmungen, Streit und Enttäuschungen. Sie waren jung, arm, anspruchslos und glücklich, da sie ihr Glück irrtümlicherweise von einer erfolgreichen Zukunft ableiteten. Keiner von ihnen zweifelte an dieser Zukunft. Sie erlebten die beste Zeit ihrer Freundschaft; sie war voll und reif geworden trotz gegenseitiger Ungeduld, Zornesausbrüchen und einer gelegentlich zur Schau gestellten Ich-kann-ohne-dich-auskommen-Haltung.
    Ihnen gehörte ein kleines Laboratorium, einer dieser düsteren Kellerräume, die damals von der Universität ihren wissenschaftlichen Assistenten zur Verfügung gestellt wurden. Es fehlte an allen Ecken und Enden, an Ausrüstung, an Mobiliar, an Versuchstieren. Die apparative Ausstattung war fehlerhaft und veraltet. Sie ließen sich dadurch nicht entmutigen. Sie erfanden, konstruierten, bastelten. Thimm war der technisch begabtere, Bertram hingegen ein Theoretiker, den Geburtswehen neuer Ideen ständig ausgesetzt. Thimm besaß die Präzision und die Beharrlichkeit des geborenen Wissenschaftlers, Bertram die spontane Hitzköpfigkeit der großen Begabung. Sie waren ein gutes Team.
    An diesem Nachmittag, als er nach seinem Besuch bei Herrn Girstenbrey in die Klinik fuhr, dachte Bertram nicht ohne Wehmut daran. Er dachte zerstreut über die Tatsache nach, daß Stephan ihn mit Karen zusammengebracht hatte, und er erinnerte sich sehr deutlich an den Abend, an dem er sie kennenlernte.
    Es war kein besonderer Abend, dennoch war er in seinem Gedächtnis haften geblieben, wie jene zwei oder drei schönen Tage, an die sich jeder, oft aus einem unerfindlichen Grund, sein Leben lang erinnert. Sie quälten sich mit der Lösung eines Problems, an dem sie seit geraumer Zeit arbeiteten: die Entstehung der Leberzirrhose bei Alkoholikern.
    Die zugeführte Alkoholmenge, folgerte Bertram, bestimmt nicht nur den Grad der Leberverfettung. Sie führt über eine Entzündung, die sich mit besorgniserregender Regelmäßigkeit dazugesellt, letztlich zur Zerstörung der Leberzellen. Das funktionstüchtige Lebergewebe wird durch nutzloses Bindegewebe ersetzt. Kaum merklich schleicht sich die Leberzirrhose ein, die Endstation wird erreicht, es gibt kein Zurück mehr.
    Mag sein, entgegnete Thimm, sogar wenn er recht hätte, blieb immer noch die Frage unbeantwortet, warum nicht alle, die viel trinken, eine Leberzirrhose bekommen.
    In diesem Spiel von Argumenten und Gegenargumenten reiften die Gedanken. Gegen die Intuition des Klinikers setzte der Pathologe Thimm die Sprache der Fakten, präzise und unbestechlich. Sie waren ein glänzendes Gespann. Später hatte sich gezeigt, daß sie das Grundsätzliche der Entstehung der Alkoholzirrhose richtig erfaßt hatten.

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