Der Chefarzt
dann nicht unwürdig und gedankenlos.«
»Ich werde mich dieser Entscheidung beugen«, murmelte Fritsch. Er sah vor seinem inneren Auge Lisas großen weißen Körper mit Tumormetastasen übersät.
»Sie versprechen's mir also?«
»Ja.«
»Auch wenn er bösartig sein sollte?«
Er legte die Hände aneinander und nickte.
»Auch wenn's nur noch kurz dauert!«
»Auch dann«, sagte er kaum hörbar.
Aber Lisa hörte ihn nicht. Ihr kam der Gedanke, wenn sie keinen Krebs hätte – sie fürchtete sich davor, wollte es nicht glauben und glaubte dennoch daran –, wäre all dies, was passierte, was in ihr vorging und in ihm, schließlich zu ihrem Besten.
Fritsch sah sie an und überlegte, warum sich wohl seine Ernennung zum Stationsarzt verzögerte. Sollte Bertram zum Schluß doch einen anderen vorziehen? Das sähe ihm ähnlich. Die Universität verdarb den Charakter, erzeugte Unbarmherzigkeit, Neid und Heuchelei. Und zum wiederholten Male faßte er den Entschluß: ›Ich muß hier weg. Landarzt – was für eine Gottesgabe.‹
6
Bertram bekam erst später Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung, die Universitätskarriere anzustreben, als seine Position gefestigt war und sein Verhältnis zu Auerbach eine Änderung erfuhr, die auf gegenseitiger Achtung beruhte. Bertram erfreute sich bei seinen Patienten allgemeiner Beliebtheit, er ließ sich genug Zeit für jeden und gab den kranken Menschen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Er hatte seine überaus geliebte Arbeit im Labor, seine Freundschaft mit Stephan, und er hatte Karen.
Die Unzufriedenheit kommt oft zu einer Zeit, wo man alle Gründe hat, glücklich zu sein.
Besorgt sah Bertram, wie die Zeit auf eine endgültige Entscheidung drängte. Wenn er sich erst einmal habilitiert hatte, stand ihm der lange, beschwerliche Weg eines Hochschullehrers bevor. Er beobachtete die zunehmende Spezialisierung, eine Tendenz, die aus Amerika kam und zweifelsohne ihre Vorteile hatte. Nur wurde die Medizin dadurch immer mehr zersplittert, und die Ärzte, jeder in sein kleines Gebiet eingeengt, waren nicht mehr in der Lage, die Zusammenhänge im menschlichen Körper zu erkennen. Sein Idealbild eines Internisten, der in der gesamten inneren Medizin zu Hause war, war im Schwinden, die Zeit der großen Kliniker vorüber.
Sollte er sein restliches Leben an der Universität verbringen, um den Studenten beschränkte Aufsatzthemen zu stellen und in solchen Aufsätzen pedantisch unwichtige Kleinigkeiten zu ihren (und zu seinem) Lebensinhalt werden zu lassen? Sollte er in der überflüssigen Perfektion der Subspezialisierung, die den Menschen zu einem Organträger degradierte, gewissermaßen nach Kommata und Buchstaben forschen und sein Leben – mit kleinen Ausnahmen – inmitten uninteressanter Existenzen verbringen?
Von einem plötzlichen Heimweh übermannt, dachte Bertram gefühlvoll an sein Elternhaus und seine Kindheit. Bräuchten die Menschen auf dem Lande nicht dringender gute, erfahrene Ärzte? Die meisten Ärzte ließen sich in den Großstädten nieder, das Leben auf dem Lande behagte ihnen oder ihren Gattinnen nicht.
Er dachte öfter an seinen Vater, an sein einfaches, erfülltes Leben. Vor seinem geistigen Auge defilierten die Provinzhonoratioren vorüber: der Bürgermeister, der Pfarrer, der Apotheker, der Filialdirektor der Raiffeisenkasse, der Inhaber des einzigen Elektrogeschäftes am Ort. Die Maiers, die Müllers … Es war eine schuldbewußte Gedankenkoketterie in der schmerzvollen Erkenntnis seiner Entfremdung vom Elternhaus. Als er scherzhaft vor Stephan erwähnte, er würde eines Tages doch Landarzt werden, zuckte Stephan wortlos die Schulter, als ob er an seinem Verstand zweifelte. Wäre Karen ihm gefolgt?
Eines Tages kam eine junge, blonde Frau ins Stationszimmer. Sie hatte ein angenehm offenes Gesicht, das ihm bekannt vorkam.
»Mein Name ist Auerbach«, sagte sie. »Ich bin die Neue.« Ihre Haltung war jovial, ohne einer Spur von Koketterie. Dr. Malvina Auerbach hatte ihre erste Assistentenstelle ausgerechnet auf seiner Station bekommen. Der Gedanke, mit der Tochter seines Chefs zusammenzuarbeiten, war im unangenehm.
7
Das letzte Jahr war schön und endete traurig. Ein paar Wochen, bevor das Unglück geschah, fragte Karen: »War es ein schönes Jahr, Hannes?« Er spürte die verhaltene Zärtlichkeit in ihren Augen.
Ein schönes Jahr? Das schönste seines Lebens! Himmel, das merkte man erst hinterher.
Karen veränderte sich zusehends,
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