Der Chefarzt
Erinnerung. Stephan war schwer zu durchschauen. Warum hatte er nicht geheiratet? An Gelegenheiten dürfte es ihm nicht gefehlt haben. Stephan sah nicht aus wie ein Frauenheld, aber seit wann stellt das Äußere eines Mannes ein ernstzunehmendes Heiratshindernis dar? Inzwischen hatte es Stephan weit gebracht, er war ein Pathologe von Rang und sicher kein armer Mann.
Stephan verhielt sich fair und hatte nie versucht, sich zwischen ihn und Karen zu stellen. Er hatte geschlichtet, als sie verkracht und beide zu stolz waren, um den ersten Schritt zu machen.
Was hätte er an seiner Stelle getan? Man lernt ein hübsches Mädchen kennen. Eines Tages kommt der Freund und lacht sich das Mädchen an. Der Freund ist in guter Form und bester Stimmung, er sagt: »Sind Sie wirklich eine ›von‹? Sie sehen nicht so aus, als ob Sie Riechsalz bräuchten. Nehmen Sie das Kopftuch weg, ich möchte Ihre Haare sehen.«
Die Pracht ihrer Haare hatte bei ihm einen merkwürdigen Schmerz hinterlassen, das Bedauern, daß so viel Schönheit ihm nie gehören würde. Für den Rest des Abends war er schweigsam und in sich gekehrt.
War Karen hübsch? Die meisten behaupteten es. Er sah es anders. Karen verkörperte seine Schönheitsvorstellung in den fünfziger Jahren, wie Malvina mit ihrer beinah knabenhaft wirkenden Figur seiner Vorstellung des Weiblichen in den sechziger Jahren entsprach. Karens Haare hatten ein kräftiges Blond und glänzten, Malvinas waren dunkler. Könnte man auf diese Weise eine Frau beschreiben? Er sagte sich: Karen besaß den schönen, leidenschaftlichen Körper eines gesunden Mädchens vom Lande, obwohl sie aus einer alten Adelsfamilie stammte. Sie hatte wunderschöne, sehr weibliche Schultern und war, wenn auch heimlich, stolz auf ihre Brüste. Großer Gott! Das war nicht seine Karen.
3
Es gibt Menschen, die man aus irgendeinem der Logik nicht zugänglichen Grund vom ersten Augenblick an nicht ausstehen kann. Und es gibt solche, mit denen man trotz Reibereien prächtig auskommt, und manche große Liebe fängt nicht selten mit Antipathie an.
Entgegen seiner Schwäche für begabte Menschen konnte Bertram seinen späteren Rivalen Holländer nicht ausstehen. Justin Holländer war, das mußte ihm der Neid lassen, als Arzt eine Begabung. Er besaß zwar nicht das angeborene Einfühlungsvermögen Bertrams, durch die er mühelos in die Psyche des Patienten eindrang, aber kompensierte es mit einem präzisen analytischen Verstand, der ihn ohne Gefühlsregung genauso zum Ziel führte. Die Patienten mochten seine betont distanzierte Art nicht, sie schätzten jedoch seine Fähigkeiten, ohne ihm vorbehaltlos ihr Vertrauen zu schenken. Bertrams Verhältnis zu Professor Auerbach fing schlecht an. Der Klinikchef zeigte sich ihm gegenüber grundlos reizbar, während Holländer seine Sympathien genoß und sichtlich bevorzugt wurde. Auerbachs Haltung bezeugte keinen großzügigen Charakter, er pflegte bei den Visiten mit kleinlicher Fragerei seine Mitarbeiter zu terrorisieren. Er war nachtragend. Bertram schien es, als ob Auerbach es darauf anlegte, ihm nicht nur seine Unzulänglichkeit vor Augen zu führen, er wollte ihm beweisen, daß er für den ärztlichen Beruf ungeeignet sei. Bertram machte eine schwere Zeit durch. Er sprach mit niemandem darüber. Er erwähnte kein Wort vor Stephan, mit dem ihn eine immer innigere Freundschaft verband. Er verbrachte die Nächte mit seinen Büchern, vergrub sich in die neueste Fachliteratur, seine Stimmung schwankte zwischen Verzweiflung und verbissener Entschlossenheit. Er bereitete sich systematisch auf die nächste Chefvisite vor, versuchte, mit hellseherischer Anstrengung Auerbachs nächste Fragen zu erraten. Er verdrängte den Gedanken an Holländers süffisantes Lächeln. Bei der nächsten Visite stolperte Bertram, Auerbachs Erfahrung nicht gewachsen, in die von ihm gestellte Falle, resignierte, entschloß sich zum wiederholten Male, seine Stellung aufzugeben. Er nahm an Gewicht ab, wirkte hektisch und verließ abends die Universitätsbibliothek erst, als ihm die Aufsicht, ein Student, der sich hier ein Zubrot verdiente, wortlos den Schlüssel unter die Nase hielt.
Dann hatte Stephan durchgegriffen. Fortan mußte sich Justin Holländer bei der Sektion seiner Patienten vom Pathologen Thimm regelmäßig Vorträge anhören, die ihm das Blut in den Kopf trieben. Holländer, ehrgeizig und intolerant, sah nur schadenfrohe Gesichter um sich. Für seine Unpopularität sorgte die Tatsache, daß er
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