Der Chefarzt
gleiche in großem Rahmen. Es passierte, daß er nicht mehr dazu kam, die fertige Arbeit zu lesen, er gab sich mit einer kurzen Zusammenfassung zufrieden. Oft wußte er nicht einmal genau, an welchen wissenschaftlichen Publikationen er zu gleicher Zeit beteiligt war; immer jedoch stand sein Name oben.
An einem Wochentag, als die Boulevardpresse die Story der Gruppe ›Tumortransplantationen‹ aufgegriffen hatte, suchte Bertram Stephan auf.
Ein Bild von Thimm mit einer thymuslosen Nacktmaus ging durch sämtliche Tageszeitungen, ein großer, hagerer Thimm, der auf das Versuchstier sah. Neun Wochen nach der Übertragung einer menschlichen Brustgeschwulst wies die Maus einen Tumor von fünf Zentimetern Durchmesser auf. Diese Geschichte ließ in Bertram die alte Verbitterung wieder aufkommen, erneut fühlte er sich von Stephan übergangen.
In der Pathologie angelangt, sprach ihn eine Schwester an: »Professor Thimm erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer, Herr Professor.« Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Auf seine Frage lächelte sie freundlich. »Ich habe an drei Abenden Ihre Sekretärin vertreten, zuletzt war ich auf der Intensivstation, als der junge Italiener starb. Mein Name ist Leopoldine Stein.«
»Jetzt erinnere ich mich«, sagte Bertram kühl. Antonios Erwähnung rief jedesmal ein Unbehagen in ihm hervor. Als er bei Stephan anklopfte, hatte seine Stimmung an diesem Tage ihren Tiefpunkt erreicht.
In Stephans Arbeitszimmer herrschte die ihm bekannte Unordnung, er mußte über gestapelte Bücher und Formalingefäße steigen, die Fenster waren zu, es roch abgestanden.
»Setz dich«, brummte Thimm schlecht gelaunt, »die ganze Welt spricht von deinem Detektivspielchen. Willst du in die Zeitung kommen?«
»Wohl kaum, die Nacktmäuse sind gefragter, mehr als mein schwacher Versuch, nach menschlichen Fehlern zu suchen.«
»Wie suchst du danach? Indem du im Operationssaal den Sherlock Holmes spielst? Ich frage mich, ob du dir der Tragweite dessen, was du tust, bewußt bist. Du kannst dir denken, was sich nach deinem Fragespiel ereignet hat. Es kursieren bereits wilde Gerüchte. Es muß was passiert sein, sagen alle, wenn Bertram persönlich … zum Teufel, die Universität ist ein Dorf!«
»Auch in einem Dorf darf man ein paar Fragen stellen.«
»Es kommt darauf an, wer die Fragen stellt und was für Fragen! Niemand spricht von Violet Girstenbrey, alle sprechen von Karen.«
»Ich habe keinen Namen genannt.«
»Das ist es ja. Hier gibt es immer einen, der sich noch an Karen erinnert und daran, daß du mit ihr verlobt warst. Die Story ist wieder perfekt.«
»Was meinst du mit ›wieder‹?«
»Himmelherrgott, hast du vergessen, was damals los war? Die Zeitungen und das ganze Drumherum, die Briefe von den Hausfrauen, die Welt hatte plötzlich ihr zerbrochenes Herz entdeckt. Du warst der Held und Karen bekam eine Statistenrolle …«
»Du mußt sie sehr geliebt haben«, sagte Bertram. Er war über seine Äußerung selbst überrascht.
»Was kümmert dich das?« sagte Stephan grob. »Du hast dich auch früher nicht darum gekümmert.«
»Du hast sie geliebt«, wiederholte Bertram, von einem inneren Zwang getrieben, »gib es zu. Du warst die ganze Zeit in sie verliebt, und als ich dich neulich fragte, warum du nicht geheiratet hast …«
»Halt den Mund.« Drohend hob Stephan seine Fäuste und wollte aufspringen.
»Du wirst heftig, daran bin ich nicht gewöhnt«, sagte Bertram mit seltsam gespielter Ruhe, die so wenig zu diesem Augenblick paßte, und wieder trieb es ihn zu sagen: »Du hast Karen über alles geliebt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer werden die Ungereimtheiten. Die Girstenbrey-Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Um nur ein Beispiel zu nennen: Violets Tumor hatte einen Durchmesser von einem Zentimeter, von ihm wurden dreizehn Schnitte angefertigt, von Karens Knoten, der kaum einen halben Zentimeter hatte, viel mehr. Laß mich ausreden. Ich weiß, du wirst dafür eine Erklärung haben, wir sind in diesem Spiel von Argumenten und Gegenargumenten geübt. Ich sprach von Ungereimtheiten. Vielleicht war es auch gar kein Fehler!«
»Du wagst …«
»Ich frage mich, ob du nicht nachgeholfen hast. Vielleicht hatte Karen gar keinen Krebs, nur Violet, und du hast die Präparate vertauscht. Nicht, um sie zum Selbstmord zu treiben, vielleicht wolltest du nur unsere Hochzeit verhindern …«
Thimm war aufgesprungen und wollte sich auf ihn stürzen, als er plötzlich stehenblieb und
Weitere Kostenlose Bücher