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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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hatte sie gelehrt, stets mit dem Wichtigsten zu beginnen, wenn sie ihm vortrug. Das tat sie auch an diesem Abend. »Es scheint mit Ihrer toten Schwester Hong zusammenzuhängen. Sie hatte enge Kontakte zu leitenden Beamten des staatlichen Sicherheitsbüros. Ihr Name taucht auf, wenn wir die Männer, die an jenem Morgen hier waren, mit anderen in Verbindung zu bringen versuchen, die im Hintergrund stehen. Wir glauben zu wissen, dass die Information noch nicht lange im Umlauf war, als sie auf so tragische Weise umkam. Aber irgendjemand auf allerhöchster Ebene hat grünes Licht gegeben.«
     
    Ya Ru bemerkte, dass Frau Shen plötzlich zögerte. »Was ist, sagen Sie es.«
     
    »Ich bin unsicher.«
     
    »Alles ist unsicher. Hat jemand auf höchster Ebene angeordnet, dass die Ermittlung gegen mich fortgeführt wird?« 
    »Ob das der Fall ist, kann ich nicht sagen. Aber das Gerücht besagt, man sei mit dem Ergebnis des Urteils gegen Shen Wixan nicht zufrieden.«
     
    Ya Ru wurde völlig kalt. Er hatte verstanden, noch ehe Frau Shen fortfahren konnte. »Noch ein Sündenbock? Noch ein reicher Mann, der gefällt werden soll, um zu zeigen, dass es sich jetzt um eine Kampagne handelt und nicht mehr nur um ein Zeichen, dass die Grenze der Geduld erreicht ist?« Frau Shen nickte.
     
    Ya Ru zog sich tiefer in den Schatten zurück. »Haben Sie noch mehr?« 
    »Nein.« 
    »Dann können Sie gehen.« 
    Frau Shen verließ den Raum. Ya Ru saß reglos da. Er zwang sich zu denken, obwohl er sein Büro am liebsten auf der Stelle verlassen hätte.
     
    Als er den schweren Entschluss gefasst hatte, Hong zu töten, und zwar auf der Reise nach Afrika, hatte er nicht daran gezweifelt, dass sie immer noch seine loyale Schwester war. Sie waren zwar uneins gewesen, hatten oft miteinander gestritten. In diesem Raum hatte sie ihm an seinem Geburtstag vorgeworfen, bestechlich zu sein.
     
    Damals hatte er verstanden, dass Hong eines Tages eine große Gefahr für ihn werden würde. Jetzt begriff er, dass er früher hätte zuschlagen müssen. Hong hatte ihn damals schon aufgegeben.
     
    Ya Ru schüttelte langsam den Kopf. Ihm wurde plötzlich etwas klar, was ihm bisher nicht in den Sinn gekommen war. Hong war bereit gewesen, das Gleiche gegen ihn zu tun, was er gegen sie getan hatte. Sie hatte zwar nicht daran gedacht, selbst eine Waffe gegen ihn zu richten. Sie wollte den rechten Weg gehen, den Weg über die Gesetze des Landes. Aber wenn Ya Ru zum Tode verurteilt worden wäre, hätte sie zu denen gehört, die das Urteil für richtig hielten.
     
    Ya Ru dachte an seinen Freund Lai Changxing, der vor einigen Jahren fluchtartig das Land hatte verlassen müssen, als die Polizei eines Morgens in allen seinen Firmen gleichzeitig Razzien durchführte. Er besaß ein eigenes Flugzeug, das immer startbereit war, und nur so war es ihm gelungen, sich und seine Familie außer Landes zu bringen. Er war nach Kanada gegangen, das kein Auslieferungsabkommen mit China hatte. Er war der Sohn eines armen Bauern und hatte eine erstaunliche Karriere gemacht, als Deng den Markt freigegeben hatte. Anfangs hatte er Brunnen gebohrt, war dann Schmuggler geworden und hatte alles Geld, das er verdiente, in Firmen gesteckt, die ihm in wenigen Jahren ein gigantisches Vermögen eingebracht hatten. Ya Ru hatte ihn einmal auf dem »Roten Herrenhof« besucht, den er sich in seinem Heimatdorf Xiamen hatte bauen lassen. Dort hatte er sich auch sozial stark engagiert und Altenheime und Schulen bauen lassen. Ya Ru hatte schon damals gegen Lai Changxings arrogante Protzerei Bedenken gehabt und ihn gewarnt, dass sie ihn eines Tages zu Fall bringen könnte. Sie hatten eines Abends zusammengesessen und über den Neid auf die neuen Kapitalisten diskutiert - »Die zweite Dynastie«, wie Lai Changxing sie ironisch nannte, aber nur, wenn er unter vier Augen mit Menschen sprach, denen er vertraute. Ya Ru hatte sich also nicht gewundert, als das gigantische Kartenhaus zusammenfiel und Lai fliehen musste. Danach waren viele von denen, die in seine Geschäfte verwickelt waren, hingerichtet worden. Andere, es mochten Hunderte gewesen sein, landeten im Gefängnis. Gleichzeitig lebte in dem armen Heimatdorf die Erinnerung an den großzügigen Mann fort. An den Mann, der einem Taxifahrer ein ganzes Vermögen als Trinkgeld geben konnte oder armen Menschen, die er noch nicht einmal mit Namen kannte, ohne jeden Anlass Geschenke machte. Ya Ru wusste auch, dass Lai jetzt damit beschäftigt war, seine

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