Der Chinese
vorwärtstragen werden.«
Sie waren während des Gesprächs durch einen unansehnlichen Korridor zu Ma Lis Arbeitszimmer gegangen, dessen Fenster auf einen kleinen Garten ging. Er war von einer hohen Mauer umschlossen, und in der Mitte befand sich ein Springbrunnen, der jetzt im Winter trockengelegt war. Ma Li servierte Tee, nachdem sie ihr Telefon abgestellt hatte. Irgendwo hörte Ya Ru jemanden lachen.
»Die Suche nach der Wahrheit ist, als ob eine Schnecke eine andere jagt«, sagte Ya Ru nachdenklich. »Es geht langsam voran. Aber sie sind hartnäckig.«
Ya Ru sah ihr starr in die Augen. Aber Ma Li wich nicht aus. »Es sind Gerüchte in Umlauf«, fuhr Ya Ru fort. »Gerüchte, die ich ungern höre. Über meine Firmen, über meinen Charakter. Ich möchte wissen, woher sie kommen. Ich muss die Frage stellen, wer mir schaden will. Nicht die üblichen Neider, sondern jemand, dessen Motive ich nicht verstehe.«
»Warum sollte ich deinen Ruf zerstören wollen?«
»Das meine ich nicht. Die Frage ist eine andere. Wer könnte etwas wissen, könnte Informationen haben und sie verbreiten?«
»Wir beide leben weit auseinander. Ich bin Beamtin, du machst große Geschäfte, von denen man in der Zeitung liest. Im Vergleich zu mir unbedeutender Frau lebst du ein Leben, das ich mir kaum vorstellen kann.«
»Aber du hast Hong gekannt«, sagte Ya Ru leise. »Meine Schwester, die auch mir nahestand. Nachdem ihr euch lange Zeit nicht gesehen hattet, seid ihr euch zufällig in Afrika begegnet. Ihr sprecht miteinander, sie sucht dich eines frühen Morgens eilig auf. Als ich nach China zurückkomme, beginnen die Gerüchte.«
Ma Li wurde blass. »Beschuldigst du mich, dich öffentlich schlechtzumachen?«
»Du musst verstehen, was du sicher auch tust, dass ich mir in meiner Situation eine solche Aussage nicht erlauben würde, wenn ich keine Nachforschungen angestellt hätte. Ich habe eine Möglichkeit nach der anderen ausgeschlossen. Am Ende habe ich nur eine einzige Erklärung. Einen einzigen Menschen.«
»Mich?«
»Eigentlich nicht.«
»Du meinst Hong? Deine eigene Schwester?«
»Es ist kein Geheimnis, dass wir in grundlegenden Fragen über die Zukunft Chinas verschiedener Meinung waren. Die Entwicklung der Politik, der Wirtschaft, die Sicht auf die Geschichte.«
»Aber ihr wart nicht verfeindet.«
»Feindschaft kann sich über lange Zeit entwickeln, fast unsichtbar, wie das Land aus dem Meer steigt. Plötzlich ist eine Feindschaft da, von der man nichts gewusst hat.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hong sich anonymer Anklagen als Waffen bedient hätte.«
»Ich weiß. Deshalb stelle ich die Frage. Worüber habt ihr eigentlich gesprochen?«
Ma Li antwortete nicht.
Ya Ru sprach weiter, ohne ihr Bedenkzeit zu lassen. »Vielleicht gibt es einen Brief«, sagte er langsam, »einen Brief, den sie dir an jenem Morgen gegeben hat. Habe ich recht? Einen Brief? Oder ein Dokument? Ich muss wissen, was sie zu dir gesagt und was sie dir gegeben hat.«
»Sie schien zu ahnen, dass sie sterben würde. Ich habe gegrübelt, konnte aber die große Unruhe nicht verstehen, die sie verspürt haben muss. Sie bat mich nur, dafür zu sorgen, dass ihr Körper verbrannt wird, wenn sie tot ist. Sie wollte, dass die Asche über dem Longtanhu Gonguyan verstreut wird, dem kleinen See in dem Park dort. Außerdem sollte ich mich um ihre Habseligkeiten kümmern, um die Bücher, ich sollte die Kleider weggeben, das Haus ausräumen.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
»Hat sie das gesagt, oder hat sie es aufgeschrieben?«
»In einem Brief. Ich habe den Inhalt auswendig gelernt. Dann habe ich ihn verbrannt.«
»Es war also ein kurzer Brief?«
»Ja.«
»Aber warum hast du ihn verbrannt? Man kann ihn ja fast ein Testament nennen.«
»Sie sagte, niemand würde meine Worte anzweifeln.« Ya Ru betrachtete weiterhin ihr Gesicht, während er über ihre Worte nachdachte. »Hat sie dir nicht noch einen anderen Brief gegeben?«
»Was hätte das für einer sein sollen?«
»Das frage ich dich. Vielleicht ein Brief, den du nicht verbrannt hast? Sondern einer anderen Person übergeben hast?«
»Ich habe einen Brief bekommen. Er war an mich gerichtet. Ich habe ihn verbrannt. Mehr nicht.« »Es wäre nicht gut, wenn du jetzt nicht die Wahrheit sagst.«
»Warum sollte ich lügen?«
Ya Ru breitete die Arme aus. »Warum lügen Menschen? Warum
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