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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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nahm ein abruptes Ende. Er knallte den
     
    Hörer auf. Das machte sie rasend. Sie rief zurück, aber er nahm nicht ab. Schließlich ließ sie ihr Handy sinken. Sie rief sich die Überlegungen ins Gedächtnis zurück, die sie an dem Tag auf der Fähre über den Öresund angestellt hatte. Nicht nur ich bin müde, dachte sie. Er erlebt mich bestimmt als ebenso kalt und abwesend wie ich ihn. Wie wir aus dieser verfahrenen Situation herauskommen, wissen wir beide nicht. Aber wie sollen wir einen Ausweg finden, solange wir es nicht schaffen, miteinander zu reden, ohne dass es Streit und verbitterte Überreaktionen gibt?
     
    Darüber könnte ich schreiben, dachte sie. Wie man einander Wunden zufügt.
     
    In Gedanken stellte sie eine Liste mit Wörtern auf, die sich auf Wunde reimten: Bunde, Funde, gesunde, Grunde, Hunde, Kunde, Munde, Runde, Stunde. Das Lied einer Richterin über Schmerz, dachte sie. Aber wie vermeide ich, dass es einfach nur banal wird?
     
    Dann machte sie sich fertig für die Nacht. Aber es dauerte lange, bis sie einschlief. Früh am Morgen wurde sie davon wach, dass irgendwo eine Tür schlug. Sie blieb in der Dunkelheit liegen und erinnerte sich an den Traum, den sie gehabt hatte. Sie war in Britas und Augusts Haus gewesen. Sie hatten mit ihr gesprochen, beide saßen auf dem dunkelroten Sofa, während sie stand. Plötzlich hatte sie gemerkt, dass sie nackt war. Sie versuchte, sich zu bedecken und fortzugehen, aber es war nicht möglich. Ihre Beine waren wie gelähmt. Als sie hinunterblickte, sah sie, dass ihre Füße in den Fußbodenbrettern feststeckten.
     
    Da war sie wach geworden. Sie horchte ins Dunkel hinaus. Betrunkene Stimmen näherten sich und verschwanden. Sie sah zur Uhr. Viertel vor fünf. Noch lange bis zur Dämmerung. Sie legte sich zurecht, um weiterzuschlafen, als ihr ein Gedanke in den Kopf schoss.
     
    Der Schlüssel hing an einem Nagel. Sie setzte sich im Bett auf. Natürlich war es verboten und unmöglich, das, was in der Kommode lag, zu holen. Nicht zu warten, bis sich irgendein Polizist vielleicht durch Zufall dafür zu interessieren begann.
     
    Sie stand auf und trat ans Fenster. Leer, still. Ich kann es tun, dachte sie. Im besten Fall trage ich dazu bei, dass diese Ermittlung nicht in einem Morast versinkt wie die schlechteste polizeiliche Ermittlung, die ich kenne, die im Mordfall Olof Palme. Aber ich mache mich eines eigenmächtigen Vorgehens schuldig, und vielleicht könnte ein dienstbeflissener Staatsanwalt einen unbegabten Richter davon überzeugen, dass ich auch die Ermittlung behindert habe.
     
    Schlimmer war, dass sie Wein getrunken hatte. Als Richter mit Alkohol am Steuer gefasst zu werden war eine Katastrophe. Sie zählte die Stunden, die seit ihrer Mahlzeit vergangen waren. Der Alkohol müsste schon verbrannt sein. Aber sicher war sie nicht.
     
    Ich darf es nicht tun, dachte sie. Auch wenn die Polizisten, die das Dorf bewachen, schlafen. Ich kann es nicht tun. Dann zog sie sich an und verließ das Zimmer. Der Flur war verlassen, die Rezeption nicht besetzt. Sie sah den Rücken einer blonden Frau im Zimmer hinter der Rezeption. Draußen schlug ihr die Kälte entgegen. Es war windstill, klarer Himmel, viel kälter als am Vorabend.
     
    Im Auto zögerte Birgitta Roslin wieder. Aber die Verlockung war zu stark. Sie wollte weiter in dem Tagebuch lesen. Ihr begegneten keine Autos. Einmal bremste sie, als sie glaubte, hinter dem Schneewall am Straßenrand einen Elch zu erkennen. Aber es war kein Tier, nur das täuschend ähnliche Wurzelgeflecht eines umgestürzten Baums.
     
    An der letzten Steigung vor dem Gefälle, das ins Dorf hinunterführte, hielt sie an und schaltete die Lichter aus. Im Handschuhfach hatte sie eine Taschenlampe. Vorsichtig ging sie die Straße entlang. Hin und wieder hielt sie inne und horchte. Ein schwacher Wind säuselte in den unsichtbaren Baumspitzen. Als sie die Hügelkuppe erreichte, sah sie, dass noch zwei Scheinwerfer brannten und vor dem Haus, das dem Waldrand am nächsten lag, ein Polizeiauto parkte. Sie würde sich dem Haus von Brita und August nähern können, ohne gesehen zu werden. Sie schirmte die Taschenlampe ab, ging durch das Gartentor des Nachbarhauses und näherte sich dem Haus von der Rückseite. Immer noch keine Bewegung bei dem Polizeiwagen. Sie tastete mit der Hand und fand den Schlüssel.
     
    Als sie in den Flur trat, erschauerte sie. Sie holte eine Plastiktüte aus der Jackentasche und zog vorsichtig die Schublade des

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