Der Chinese
August Andren« stand. Das Erste, was sie sah, entsetzte sie. Es waren Fotos, die im Inneren des Hauses aufgenommen waren. Erst jetzt ahnte sie das wahre Ausmaß des Blutbads. Sie starrte auf die Bilder der zerschlagenen und aufgeschlitzten Körper. Die Frau war kaum noch zu erkennen, weil ein Hieb ihr Gesicht fast in zwei Teile gespalten hatte. Ein Arm des Mannes hing nur noch an ein paar Sehnen.
Sie schlug den Ordner zu und schob ihn von sich. Doch die Bilder blieben, von ihnen würde sie sich nicht befreien können. Obwohl sie im Laufe ihrer Jahre als Richterin viele Male mit Bildern sadistischer Gewalt konfrontiert worden war, hatte sie noch nie etwas gesehen, was mit den Bildern in Erik Huddens Ordnern vergleichbar war.
Er kam zurück und nickte ihr zu mitzukommen.
Vivi Sundberg saß hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch. Ihre Dienstwaffe und ihr Handy lagen auf einem Ordner, der zum Bersten voll war.
Sie zeigte auf einen Besucherstuhl. »Sie wollten mit mir sprechen«, sagte Vivi Sundberg. »Wenn ich es richtig verstanden habe, sind Sie den ganzen Weg von Helsingborg heraufgekommen. Sie müssen glauben, dass das, was Sie zu erzählen haben, wichtig ist, sonst hätten Sie nicht die weite Reise gemacht.«
Das Telefon klingelte. Vivi Sundberg schaltete es ab und sah ihre Besucherin auffordernd an.
Birgitta Roslin erzählte, ohne sich in Einzelheiten zu verzetteln. Wie oft hatte sie auf ihrem Richterstuhl gesessen und gedacht, wie ein Staatsanwalt oder ein Verteidiger, ein Angeklagter oder ein Zeuge sich besser hätte ausdrücken sollen. Sie selbst beherrschte die Kunst. »Das mit Nevada ist Ihnen wahrscheinlich bekannt«, schloss sie.
»Es ist noch bei keiner unserer Besprechungen erwähnt worden. Und die halten wir zweimal täglich ab.«
»Was glauben Sie nach dem, was ich erzählt habe?«
»Ich glaube nichts.«
»Es kann bedeuten, dass es kein Wahnsinniger war, der dies getan hat.«
»Ich werde Ihre Information genauso bewerten wie alles andere. Wir werden von Ideen förmlich überschüttet. Vielleicht findet sich in allem, was an Telefonen gesagt oder in Briefen und E-Mails geschrieben wird, ein kleines Detail, das sich später als wichtiger Bestandteil der Ermittlung erweist. Wir wissen es nicht.«
Vivi Sundberg nahm einen Kollegblock und bat Birgitta Roslin, noch einmal zu erzählen. Als sie alles notiert hatte, stand sie auf, um Birgitta Roslin zum Ausgang zu bringen. »Wollen Sie das Haus sehen, in dem Ihre Mutter aufgewachsen ist? Sind Sie deshalb gekommen?«
»Geht das?«
»Die Leichen sind fort. Ich kann Sie einlassen, wenn Sie wollen. Ich fahre in einer halben Stunde hinaus. Sie müssen mir nur versprechen, nichts aus dem Haus mitzunehmen. Es gibt Menschen, die mit Begeisterung den Korkfußboden herausreißen würden, auf dem ein erschlagener Mensch gelegen hat.«
»So bin ich nicht.« »Wenn Sie in Ihrem Auto warten, können Sie hinter mir herfahren.«
Vivi Sundberg drückte auf einen Schalter, so dass die Türen aufgingen. Birgitta Roslin trat hinaus auf die Straße, ohne dass einer der Journalisten, die sich in der Anmeldung drängten, sie behelligt hätte.
Als sie im Auto saß, wurde ihr klar, dass sie Vivi Sundberg nicht hatte überzeugen können. Sie hatte ihr nicht geglaubt. Irgendwann würde sich vielleicht einer der Ermittler mit den Informationen über Nevada befassen. Aber ohne Begeisterung.
Sie konnte Vivi Sundberg keinen Vorwurf machen. Den Bogen zu schlagen zwischen Hesjövallen und einer Stadt in Nevada war vielleicht zu viel verlangt.
Ein schwarzer Wagen ohne Polizeikennzeichnung bremste neben ihr. Vivi Sundberg winkte.
Als sie das Dorf erreichten, lotste Vivi Sundberg sie zum Haus und sagte: »Ich lasse Sie hier allein, damit Sie eine Weile für sich sein können.«
Birgitta Roslin holte tief Atem und betrat dann das Haus, in dem alle Lampen brannten.
Es war, als würde sie aus einer Kulisse heraustreten, direkt auf die beleuchtete Bühne. Und in dem Drama war sie vollkommen allein.
Birgitta Roslin versuchte, nicht an die Toten zu denken. Stattdessen vergegenwärtigte sie sich das verschwommene Bild ihrer Mutter in diesem Haus. Eine junge Frau mit der Sehnsucht hinauszukommen, die sie mit niemandem teilen konnte, die sie sich kaum selbst eingestehen konnte, ohne von schlechtem Gewissen gegenüber den einfachen Pflegeeltern mit ihrer religiösen Gutmütigkeit
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