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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Wirklichkeit beschrieb, dann lügt er in den Briefen. Im Tagebuch heißt es, sein Wochenlohn betrage elf Dollar. In einem der ersten Briefe, die sie las, berichtete er: »Meine Bosse sind so zufrieden, dass ich jetzt 25 Dollar im Monat bekomme, was vielleicht mit dem Lohn eines Kreissekretärs zu Hause bei Euch vergleichbar ist.« Er gibt an, dachte sie. JA ist so weit weg, dass niemand seine Angaben überprüfen kann. Sie las weiter und entdeckte neue Lügen, eine verblüffender als die andere. Plötzlich hat er eine Verlobte, eine Köchin, die Laura heißt und »aus einer besseren Familie in New York« kommt. Dem Datum des Briefs nach zu urteilen, liegt er zu dieser Zeit auf seinem Sterbebett und schreibt in Todesangst sein Testament. Laura ist ihm vielleicht in einem Fiebertraum erschienen.
     
    Der Mann, von dem Birgitta Roslin sich ein Bild zu machen versuchte, entglitt ihr wie ein sich windender Aal. Immer ungeduldiger blätterte sie in den Briefen und Tagebüchern.
     
    Sie hatte mehrere Stunden über den schwer entzifferbaren Texten gesessen, als sie zwischen den Tagebuchseiten auf ein eingelegtes Blatt Papier stieß. Sie nahm an, dass es ein Lohnzettel war. Für April 1862 sind Jan August Andren zwölf Dollar Arbeitslohn ausgezahlt worden. Jetzt wusste sie, dass es sich um denselben Mann handelte, der den Brief in den von ihrer Mutter hinterlassenen Papieren geschrieben hatte. Sie stand auf und trat ans Fenster. Ein Mann schaufelte Schnee. Aus Hesjövallen ist einst ein Mann mit Namen Jan August Andren emigriert, dachte sie. Er landete als Eisenbahnarbeiter in Nevada, wird Vorarbeiter und mag weder die Iren noch die Chinesen, über die er Aufsicht führt. Die erfundene Verlobte war vielleicht nur eine der »losen Frauen, die sich um die Eisenbahnbaustellen sammeln«, wie er an anderer Stelle im Tagebuch schreibt. Sie verbreiten Geschlechtskrankheiten unter den Bauarbeitern. Die Huren, die der Spur des Eisenbahnbaus folgen, schaffen Unordnung und Probleme. Nicht nur müssen Arbeiter, die Geschlechtskrankheiten haben, entlassen werden, es brechen auch regelmäßig heftige Schlägereien um die Frauen aus. In dem Tagebuch, von dem sie jetzt die Hälfte gelesen hat, erzählt JA, dass ein Ire namens O'Connor wegen Mordes an einem schottischen Arbeiter zum Tode verurteilt worden ist. Sie waren betrunken und hatten sich um eine Frau geprügelt. Jetzt sollte er gehängt werden, und der angereiste Richter hatte zugestimmt, dass das Urteil nicht in der Stadt, sondern auf einem Hügel nahe der Stelle vollstreckt werden sollte, bis zu der der Eisenbahnbau gelangt war. Jan August Andren schreibt: »Ich finde es gut, dass alle sehen, wohin Alkohol und Messer führen können.«
     
    Er beschreibt den Tod des irischen Arbeiters sehr eingehend. Es ist ein junger Mann, dem »noch kaum ein Flaumbart gewachsen ist«.
     
    Es ist am frühen Morgen. Die Urteilsvollstreckung findet unmittelbar vor dem Beginn der Morgenschicht statt. Auch eine Hinrichtung darf nicht dazu führen, dass eine einzige Schwelle, eine einzige Schiene zu spät verlegt wird. Den Vorarbeitern ist gesagt worden, dass alle bei der Hinrichtung anwesend sein sollen. Es weht ein scharfer Wind. Jan August Andren bindet sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, als er herumgeht und kontrolliert, dass seine Männer aus den Zelten gekommen und zum Hinrichtungsplatz gegangen sind. Der Galgen steht auf einer Plattform aus frisch geteerten Schwellen. Wenn der junge O'Connor tot ist, wird der Galgen abgebaut, und die Schwellen werden wieder zu dem frisch aufgeschütteten Bahnwall getragen. Der zum Tode Verurteilte wird von bewaffneten Gerichtsdienern herbeigeführt. Auch ein Geistlicher ist anwesend. Jan August Andren beschreibt, wie sich ein Murren unter den Versammelten erhebt. »Einen Moment lang konnte man glauben, dass der Lärm sich gegen den Henker richtete. Dann musste man natürlich bedenken, dass alle, die hier standen, froh waren, nicht selbst derjenige zu sein, dem das Genick gebrochen werden sollte. Und konnte ich mir in diesem Moment gut vorstellen, dass viele von denen, die die tägliche Plackerei hassten, jetzt eine engelgleiche Freude darüber verspürten, auch an diesem Tag Eisenbahnschienen tragen, Schotter schaufeln und Schwellen verlegen zu können.«
     
    In seiner ausführlichen Beschreibung der Hinrichtung ist Jan August Andren wie ein früher Kriminalreporter, dachte Birgitta Roslin. Aber er schreibt für sich selbst oder vielleicht für eine

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