Der Consul
vielleicht war er ein Überschlauer, auf den Sie hereingefallen sind. Der Kommissar Grüntner aus Erfurt hat mir da so einiges Aufschlussreiches über Sie erzählt«, insistierte Voß.
»Der Kommissar Grüntner gehört derselben Partei an wie unser Zeuge, Herr Oberreichsanwalt. Aber wenn Sie ihn für einen so unbestechlichen Kriminalisten halten, sollten wir ihn laden und befragen, ob er Leutbolds blutige Kleidung gefunden hat.«
Der Senatspräsident wandte sich an Voß. »Hat denn dieser Kommissar Grüntner Kleidungsstücke gefunden?«
»Nein, Herr Senatspräsident.«
»Verzeihen Sie, Herr Zeuge, wir Juristen müssen manchmal seltsame Fragen stellen. Herr Oberreichsanwalt, die Kriminalisten müssen ja immer alle Möglichkeiten prüfen, auch die unsinnigsten. Sind Sie sicher, dass dieser Kommissar das getan hat?«
»Ob der Kommissar Grüntner die Möglichkeit geprüft hat, der Herr Ministerpräsident ...« Er brach ab.
»Der Angeklagte hat hier ja lang und breit vorgetragen, es gebe eine Verschwörung, und dieser Prozess gehöre dazu. Sollte sich nun herausstellen, dass dieser Leutbold nicht der Mörder war, macht das die eigentlich etwas absonderliche Einlassung des Angeklagten nicht unwahrscheinlicher, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Voß wurde blass. »Das heißt, Herr Senatspräsident, Sie schließen die Möglichkeit nicht aus, dass Leutbold nicht der Täter war.«
Ich hörte Göring schnaufen. Er lief langsam rot an. Ich spürte die Kraft, die er aufbrachte, um nicht aus der Haut zu fahren.
Voß beantragte, die Verhandlung zu vertagen. Ich widersprach, weil ich sah, dass das Gericht Fragen bedachte, die es vorher ausgeschlossen hatte, und wollte nachsetzen. Ich wusste wie jeder andere im Saal, ich hatte den Kampf mit Göring so gut wie gewonnen, und Voß wollte den K. o. verhindern.
Es wurde vertagt. Als ich weggeführt wurde, warf ich einen Blick auf die Zuschauerreihen. Hoffentlich hatte Aschbühler wirklich einen Spion hier sitzen. Für die internationale Presse war Görings Auftritt ein Fressen.
Der Schließer, der am Abend die Essenausgabe überwachte, warf mir einen anerkennenden Blick zu. Am Morgen blinzelte mir ein anderer zu und flüsterte: »Da draußen haben jetzt ein paar Leute richtig Ärger. Man hört so einiges. Sie sitzen nicht mehr lang hier.« An diesem Tag war ich gut gelaunt. Ich las in einem eitlen Buch meines ehemaligen Kollegen Engelbrecht aus der Gefängnisbücherei und schlief traumlos.
*
Am Morgen des folgenden Tags wurde ich wieder in den Verhandlungssaal geführt. Merkel setzte eine freundliche Miene auf, als hätte er es immer gewusst. Ich blickte hinüber zur Bank des Oberreichsanwalts. Ein mir unbekannter Mann im Talar hatte dort Platz genommen und blätterte in Akten. Er war klein und fett, auf der breiten Nase trug er eine Hornbrille, darunter einen breiten Schnauzbart. Die glatten schwarzen Haare waren militärisch kurz geschnitten. Voß fehlte immer noch, als das Gericht eintrat. Nachdem sich alle gesetzt hatten, sagte der Senatspräsident: »Der Herr Oberreichsanwalt Dr. Voß hat mir mitgeteilt, dass er aus dem Verfahren ausscheidet. Für die Oberreichsanwaltschaft übernimmt den Fall Herr Dr. Thielcke. Herr Dr. Thielcke, Sie wollen uns eine Mitteilung machen?«
»Jawohl, Herr Präsident. Die Oberreichsanwaltschaft erklärt, dass Dr. Voß aus dem Verfahren ausscheiden musste, nachdem er erkannt hatte, dass er befangen ist. Dr. Voß wurde selbst zum Opfer des Angeklagten. Dieser überfiel ihn und seine Sekretärin am 15. November 1932 in seinem Büro im Gebäude des hiesigen Reichsgerichts. Bei diesem Überfall erpresste er die Herstellung von Entlassungsscheinen für die flüchtigen Leutbold und Schmoll, die im dringenden Verdacht stehen, den Führer der nationalsozialistischen Partei, Adolf Hitler, ermordet zu haben. Durch diese Tat erwies sich Soetting als Komplize der Mörder. Die Oberreichsanwaltschaft beantragt angesichts dieser neuen Beweislage, das Verfahren einzustellen und neu anzusetzen. Die Oberreichsanwaltschaft wird zum gegebenen Zeitpunkt Beweise vorlegen, die Soettings Teilnahme an einer großen Verschwörung der Kommune gegen das Deutsche Reich belegen.«
Der Senatspräsident schwieg eine Weile. Dann schaute er mich an.
»Angeklagter, trifft zu, was der Herr Oberreichsanwalt hier vorgetragen hat?«
Ich antwortete nicht.
Epilog
S eit zwei Monaten sitze ich in der Zelle und warte darauf, dass sie mich holen. Das zweite Verfahren war
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