Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Was bisher geschah …
2005 gründeten mein bester Freund Hartmut und ich eine WG. Es heißt, Gegensätze ziehen sich an. Hartmut studierte Philosophie und wollte jeden Tag die Welt aus den Angeln heben. Einmal sabotierte er Strom und Wasser im ganzen Viertel, um die Menschen durch Not zu vereinen. Ich ging als Packer am Fließband von UPS malochen und genoss meine Freizeit zwischen Badewanne, Sofa und Playstation. Bier war immer vorrätig, und gegenüber unserem heruntergekommenen Haus in Wiemelhausen lag Bochums beste Pommesbude.
Eines Tages trat Susanne in Hartmuts Leben, eine herzliche Praktikerin, die für alles Lösungen hatte. Zu viele für Hartmut. Er warf sie raus und wurde unglücklich. Ein paar Freunde und ich holten sie zurück, denn wir wussten, dass die beiden zusammengehören. Ich selbst verliebte mich einige Zeit später in Caterina, eine rothaarige Künstlerin mit grünen Augen. Sie war Klientin in Hartmuts »Institut zur Dequalifikation«, in dem wir arbeitslose Akademiker für das praktische Leben fit machten. Nebenbei verteidigten wir das Haus gegen das Bauamt. Wir zwei Paare waren voll beschäftigt und bildeten mitsamt Kater Yannick und Schildkröte Irmtraut fortan eine Familie. Die beste, die wir alle jemals hatten.
Unser Heim fiel seinem Alter sowie einem fehlgeleiteten LKW zum Opfer, und Hartmut erwarb ein Fachwerkhaus in Hohenlohe blind im Internet. Was wir in der schwäbischen Provinz erlebten, fühlt sich bis heute wie ein Traum an. Wir irrten barfuß mit Wandelgermanen durch die Tannen, nahmen an Wehrsportgefechten teil und ließen die Leiche aus Fachwerk durch einen Restaurateur ohne Telefon und Adresse wiederbeleben, der nur dann erscheint, wenn die Bewohner bereit sind. Nach dieser aufreibenden Zeit lebten wir aus dem Koffer in Motels an Rasthöfen, auf denen Caterina die Wanderausstellung »Kunstpause« veranstaltete, während Hartmut auf Quittungen und Servietten das »Manifest für die Unvollkommenheit« zusammentackerte, darin den sinnfreien Daseinzustand des Murp erfand und im längsten Stau der deutschen Geschichte die Anarchie ausrief.
Die Steuerfahndung nahm uns alles, und wir gingen nach Berlin, weil dort angeblich die Jobs auf der Straße liegen. Nach Wochen in einer verrückt gewordenen Werbeagentur gründeten wir unsere eigene Firma MyTaxi, und Susanne wurde überraschend schwanger. Wir hatten es geschafft, gegen alle Widerstände – eine Wahlfamilie mit Unternehmen und bald sogar mit Nachwuchs! Doch Berlin entpuppte sich immer mehr als Feindesland mit Bedrohungen von unten wie von oben; von der Mafia auf der Straße und der Mafia in der Politik. Während die Gangs auf den Bürgersteigen aus ihren Absichten keinen Hehl machten, flocht die Regierung mit Hilfe des neuen, experimentellen »Moralministeriums« immer engmaschigere Gesetze zur Verbesserung der Welt. Der politische Wahn kostete Susannes und Hartmuts ungeborener Tochter Lisa bei einem Unfall anlässlich einer fehlgeleiteten Verkehrskontrolle das Leben. Dieser Verlust verwandelte unsere Familie in vier hilflose Zombies, die nur noch funktionierten und sich jeden Tag gegenseitig Vorwürfe machten. Hartmut, Susanne, Caterina und ich verließen Berlin in verschiedene Richtungen, um eine Zeitlang voneinander Pause zu machen und das traumatische Ende unserer Zukunft zu verarbeiten.
Die Wege, die wir dabei wählen, sind sehr verschieden … und die Möglichkeiten, uns zu begleiten, äußerst vielfältig.
Heilung hat viele Gesichter.
Heilung braucht Geduld.
Wir haben die Zeit, sie uns zu nehmen.
Die Einsamkeit
14.–15. 03. 2011
52° 30′ 5.42″ N, 13° 16′ 35.64″ E
Mein Wunsch ist es, zu verschwinden. So, wie Lisa verschwunden ist, bevor sie überhaupt geboren wurde. Seit Monaten verstecke ich mich in diesem Zimmer. Ich habe es nicht einmal ganz rausgeschafft aus Berlin. Ich habe es versucht, aber bei jedem Meter, den ich fahre, stelle ich mir vor, wie es wäre, einfach das Steuer herumzureißen. Ich dachte, das hört irgendwann auf, aber das ist ein Irrtum.
An den Weihnachtsfeiertagen wollte meine Mutter, dass ich in meine Heimatstadt komme. Ich erklärte ihr, dass ich nicht kann , mir also im wahrsten Sinne des Wortes die Fähigkeit fehlt, mich von hier fortzubewegen. Sie verstand es nicht.
»Du sagst mir nicht mal, wo du bist«, klagte sie und sagte, was alle sagen, wenn jemand stirbt: »Das hätte die Kleine nicht gewollt.«
Ach nein?
Hätte Lisa gewollt, dass ich auf den Tischen tanze?
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