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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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aufgestörten
Empfinden, das mir nicht mehr gehorcht – wenn das alles zutrifft, so ist das
Schreiben ein erbarmungsloses Verhör, ein teuflisches Vorhaben, und es wäre
vielleicht besser, die sorgfältig zugespitzte Rohrfeder zu zerbrechen,das
Tintenfaß auf die Steinplatten vor der Tekieh [4] auszugießen – möge der schwarze
Fleck mich dann ermahnen, nie mehr den Zauber anzutasten, der böse Geister
weckt. Aufbegehren! Ist es nur ein Wort, oder ist es ein Gedanke? Ist es ein
Gedanke, so ist es mein Gedanke – oder meine Verirrung. Ist es eine Verirrung,
dann Wehe über mich; ist es Wahrheit, noch mehr Wehe über mich!
    Aber ich habe keinen anderen Weg,
niemandem kann ich es sagen, außer mir und dem Papier. Darum fahre ich fort,
unaufhaltsam Zeilen zu füllen, von rechts nach links, von Abgrund zu Abgrund
des Randes, von Abgrund zu Abgrund der Gedanken, in langen Reihen, die als
Zeugnis bleiben oder als Anklage. Wessen Anklage, großer Gott, der du mich der
ärgsten menschlichen Qual anheimgegeben hast: mich mit mir selbst zu befassen?
Wessen Klage, gegen wen? Gegen mich oder gegen andere? Aber es gibt keine
Rettung mehr, dieses Schreiben ist etwas Unausweichliches, wie Leben oder
Sterben. Es wird geschehen, was geschehen muß, und meine Schuld ist es, daß ich
das bin, was ich bin, wenn das Schuld ist. Mir scheint, daß sich alles von
Grund auf ändert, alles in mir, der Boden unter mir gerät ins Wanken, und die
Welt schwankt mit mir, denn auch sie ist ohne Ordnung, wenn Unordnung in mir
ist, und wiederum – dies, was geschieht, und das, was war, hat dieselbe
Ursache: daß ich mich selbst achten will und muß. Ohne das hätte ich nicht die
Kraft, als Mensch zu leben. Es klingt vielleicht lächerlich, aber ich bin
Mensch gewesen mit den Dingen von gestern, und ich möchte Mensch sein mit
denen von heute, den anderen, vielleicht entgegengesetzten; aber das verwirrt
mich nicht, denn der Mensch ist Veränderung, und böse ist es; nicht dem
Gewissen zu gehorchen, wenn es sich meldet.
    Ich bin Scheich einer Tekieh des
Mewlewi-Ordens [5] , des reinsten und größten Ordens, und die Tekieh, in der ich
lebe, liegt am Ausgang aus der Stadt, zwischen schwarzen und braunen
Felswänden, die die Weite des Himmels verdecken und nur ganz oben einen schmalen
Durchblick ins Blaue lassen, wie eine karge Gnade und das Erinnern an den
endlos weiten Himmel der Kindheit. Ich liebe es nicht, das weit zurückgreifende
Erinnern, es quält mich immer mehr – als verfehlte Möglichkeit, wenn ich auch
nicht weiß, wozu. Ohne rechte Klarheit vergleiche ich die saftigen Wälder über
dem Haus des Vaters, die Felder und Obstgärten um den See mit der felsigen
Enge, in der wir gefangen sind, ich und die Tekieh, und es scheint mir, als
gäbe es viel Ähnlichkeit zwischen der Beengung in mir und der um mich herum.
    Die Tekieh ist schön und geräumig,
an einem Flüßchen errichtet, das aus den Bergen kommt und hier durch die Felsen
bricht; ein Garten gehört dazu und Rosenstöcke und wilder Wein über der
Veranda, ein langer Vorraum, in dem die Stille weich ist wie Watte, noch
leiser, weil das Flüßchen ihm zu Füßen murmelt.Das Haus war dem Orden von dem
reichen Alijaga Džanić vermacht worden, damit es, bei seinen Vorfahren
Wohnstatt der Frauen, nunmehr den Derwischen [6] zur Zusammenkunft und den Armen
als Zufluchtsort diene, „denn sie sind Menschen gebrochenen Herzens". Mit
Gebeten und Weihrauch wuschen wir die Sünde aus dem Haus, und die Tekieh erwarb
den Ruf eines heiligen Ortes, obgleich wir nicht ganz die Schatten der jungen
Frauen bannen konnten. Manchmal schien es, als gingen sie durch die Gemächer
und als nähme man ihren Duft wahr.
    Jeder wußte – darum verheimliche ich
es nicht, sonst wäre dieser Bericht eine bewußte Lüge (eine Lüge, von der man
nicht weiß, die man unbewußt ausspricht, macht einen nicht schuldig) –: Die
Tekieh, ihr Ruhm und ihre Heiligkeit, das war ich, ich war ihr Fundament und
ihr Dach. Ohne mich wäre sie ein Haus mit fünf Räumen geblieben, ein Haus wie
jedes andere, mit mir wurde sie eine Feste des Glaubens. Sie war gleichsam die
Wehr der Stadt gegen bekannte und unbekannte Übel, ihr Schutz, denn nach der
Tekieh kamen keine Häuser mehr. Die dichten hölzernen Fenstergitter und die
starke Mauer rings um den Garten machten unsere Abgeschiedenheit fester und
sicherer, das Tor aber stand stets offen, damit jeder eintrete, der Hilfe und
Reinigung von Sünden brauchte, und wir empfingen die

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