Der Distelfink
war sie halb Irin, halb Cherokee und kam aus einer Kleinstadt in Kansas an der Grenze zu Oklahoma, und sie brachte mich gern zum Lachen, indem sie sich selbst als Okie bezeichnete, obwohl sie hochglänzend, nervös und elegant wie ein Rennpferd war. Auf Fotos kommt dieser exotische Charakter leider ein bisschen zu hart und unerbittlich zum Vorschein– die Sommersprossen mit Make-up übertüncht, das Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden wie bei einem Edelmann in der Geschichte vom Prinzen Genji –, und was überhaupt nicht herüberkommt, ist ihre Wärme, ihre unberechenbare Fröhlichkeit, die ich an ihr am meisten liebte. An der Stille, die sie auf Bildern ausstrahlt, wird deutlich, wie sehr sie der Kamera misstraute; sie scheint sich auf wachsam tigerhafte Weise gegen einen Angriff zu wappnen. Aber im Leben war sie nicht so. Sie bewegte sich mit erregender Flinkheit, mit plötzlichen, leichten Gebärden, und hockte immer auf der Stuhlkante wie ein lang gestreckter, eleganter Sumpfvogel, der gleich erschrocken davonflattern wird. Ich liebte ihr Sandelholzparfüm, so rau und unerwartet, und ich liebte das Rascheln ihrer gestärkten Bluse, wenn sie sich herunterbeugte, um mich auf die Stirn zu küssen. Wenn sie lachte, wollte man wegwerfen, was immer man tat, und ihr die Straße hinunter folgen. Wo sie hinkam, schauten die Männer sie aus dem Augenwinkel an, und manchmal warfen sie ihr Blicke zu, die mich ein bisschen störten.
Ihr Tod war meine Schuld. Andere Leute versichern mir immer ein bisschen vorschnell, dass dem nicht so wäre, und jawohl, nur ein Kind, wer hätte das ahnen können, schrecklicher Unfall, einfach Pech, hätte jedem passieren können – das alles ist wahr, und ich glaube kein Wort davon.
Es passierte in New York, am 10.April, vor vierzehn Jahren. (Sogar meine Hand sperrt sich gegen das Datum. Beim Schreiben musste ich Druck ausüben, nur damit der Stift sich weiter über das Papier bewegte. Es war immer ein völlig normaler Tag, aber jetzt ragt er aus dem Kalender wie ein rostiger Nagel.)
Wäre der Tag planmäßig verlaufen, hätte er sich anonym in den Himmel verflüchtigt, spurlos wie der Rest meines achten Schuljahrs. Was wüsste ich jetzt noch davon? Wenig oder gar nichts. Aber natürlich ist die Textur jenes Morgens noch klarer zugegen als die des heutigen Tages, bis hin zu der mit Feuchtigkeit beladenen Luft. In der Nacht hatte es geregnet, ein schreckliches Unwetter; Geschäfte standen unter Wasser, und zwei U-Bahn-Stationen waren geschlossen. Wir beide warteten auf dem pitschnassen Teppich vor unserem Apartmentgebäude, während ihr Lieblingsportier, Goldie, der sie anbetete, mit erhobenem Arm in Richtung 57th Street zurückging und nach einem Taxi pfiff. Autos rauschten in schmutzig aufsprühenden Tropfenschleiern vorüber. Dicke Regenwolken wälzten sich über Hochhaustürme, rissen auf und umzingelten die klaren blauen Flecken am Himmel. Unten auf der Straße, unter den Auspuffgasen, war der Wind feucht und weich wie im Frühling.
» Ah, das ist besetzt, Lady « , rief Goldie durch den tosenden Straßenlärm und trat beiseite, als ein Taxi spritzend um die Ecke kam und sein Licht abschaltete. Er war der kleinste unter den Portiers, ein schmächtiger, dünner, lebhafter kleiner Kerl, ein hellhäutiger Puerto Ricaner und ehemaliger Federgewicht-Boxer. Sein Gesicht war zwar vom Trinken aufgedunsen (manchmal, wenn er zur Nachtschicht erschien, roch er nach J&B), aber er war immer noch drahtig, muskulös und flink– dauernd alberte er herum, dauernd machte er eine Zigarettenpause unten an der Ecke, trat von einem Fuß auf den anderen, blies sich auf die weißbehandschuhten Hände, wenn es kalt war, und erzählte Witze auf Spanisch, sodass die anderen Portiers sich kaputtlachten.
» Sie ganz eilig heute Morgen? « , fragte er meine Mutter. Auf seinem Namensschild stand BURT D., aber alle nannten ihn Goldie, wegen seines Goldzahns und weil sein Nachname, de Oro, auf Spanisch » Gold « bedeutete.
» Nein, wir haben reichlich Zeit, es geht schon. « Aber sie sah erschöpft aus, und ihre Hände zitterten, als sie sich das Tuch neu um den Hals schlang, weil es im Wind knatternd flatterte.
Goldie war es wohl auch aufgefallen, denn er schaute mit leiser Missbilligung zu mir herüber (ich hatte mich still hinter den Pflanzkübel aus Beton vor der Hauswand verzogen und betrachtete alles, nur nicht sie).
» Ihr fahrt nicht mit der Bahn? « , fragte er mich.
» Oh, wir
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