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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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irgendeinen Klotzkopf da sitzen siehst, der eine Crackpfeife raucht und erzählt, wie schmutzig und unsicher das hier ist und dass er nie eine Nadel benutzen würde, weißt du? Als ob er so viel vernünftiger wäre als du?
    Warum hast du angefangen?
    Warum fängt einer an? Mein Mädchen hat mich verlassen. Freundin damals. Wollte ich ganz böse und selbstzerstörerisch sein, hah! Hat geklappt.
    Jimmy Stewart in seinem College-Sweater. Silberner Mond, bebende Stimmen. Buffalo Gals, won’t you come out tonight, come out tonight.
    Und warum hörst du dann nicht auf?
    Warum sollte ich?
    Muss ich wirklich sagen, warum?
    Yeah, aber wenn ich keine Lust habe?
    Wenn du aufhören kannst, warum solltest du dann nicht?
    Wer durch das Schwert lebt, wird durch das Schwert umkommen, sagte Boris knapp und drückte mit dem Kinn auf den Knopf seiner sehr professionell aussehenden medizinischen Aderpresse, während er sich den Ärmel hochschob.]
    Und so schrecklich es auch ist, ich verstehe es. Wir können uns nicht aussuchen, was wir wollen und was wir nicht wollen, und das ist die harte, einsame Wahrheit. Manchmal wollen wir, was wir wollen, obwohl wir wissen, dass es uns umbringen wird. Wir können dem, was wir sind, nicht entrinnen. (Eins muss ich zugunsten meines Dads sagen: Er hat zumindest versucht, etwas Vernünftiges zu wollen– meine Mutter, den Aktenkoffer, mich–, bevor er durchdrehte und davor weglief.)
    Und so gern ich an eine Wahrheit jenseits der Illusion glauben würde, glaube ich doch inzwischen, dass es sie nicht gibt. Denn zwischen der » Realität « auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft, gibt es eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand, wo die Schönheit ins Dasein kommt, wo zwei sehr unterschiedliche Oberflächen sich mischen und verwischen und bereitstellen, was das Leben nicht bietet: und das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie.
    Und– das würde ich noch behaupten– alle Liebe. Vielleicht genauer gesagt, illustriert diese mittlere Zone die fundamentale Diskrepanz der Liebe. Aus der Nähe gesehen: eine sommersprossige Hand an einem schwarzen Mantel, ein umgekippter Origami-Frosch. Ein Schritt zurück und die Illusion flammt wieder auf: Leben-mehr-als-Leben, unsterblich. Pippa selbst ist das Spiel zwischen diesen Dingen, Liebe und Nicht-Liebe, da und nicht-da. Fotografien an der Wand, eine zusammengerollte Socke unter dem Bett. Der Augenblick, als ich die Hand ausstreckte und ein Stäubchen aus ihrem Haar strich und sie lachte und sich unter meiner Berührung wegduckte. Und so, wie Musik der Raum zwischen den Noten ist und die Sterne schön sind wegen des Raums zwischen ihnen, so, wie die Sonne aus einem bestimmten Winkel auf die Regentropfen trifft und ein Prisma aus Farben über den Himmel wirft– so ist auch der Raum, in dem ich existiere und weiter existieren möchte und in dem ich, offen gesagt, hoffentlich auch sterben werde, genau diese mittlere Distanz: wo Verzweiflung auf das reine Andere traf und etwas Erhabenes entstehen ließ.
    Und darum habe ich mich entschieden, diese Seiten zu schreiben, wie ich sie geschrieben habe. Denn nur, indem ich in diese mittlere Zone trete, an den polychromen Rand zwischen Wahrheit und Unwahrheit, ist es überhaupt erträglich, hier zu sein und dies zu schreiben.
    Was immer uns lehrt, mit uns selbst zu sprechen, ist wichtig: was immer uns lehrt, uns singend aus der Verzweiflung zu lösen. Aber das Bild hat mich auch gelehrt, dass wir über die Zeit hinweg miteinander sprechen können. Und ich habe das Gefühl, ich habe dir etwas sehr Ernstes und Dringliches zu sagen, mein nicht existierender Leser, und ich glaube, ich sollte es so dringlich sagen, als stünde ich mit dir im selben Zimmer: dass das Leben– was immer es sonst sein mag– kurz ist. Dass das Schicksal grausam ist, aber vielleicht nicht beliebig. Dass die Natur (also der Tod) immer gewinnt, was aber nicht bedeutet, dass wir buckeln und um Gnade winseln müssen. Dass es, auch wenn wir nicht immer so froh sind, hier zu sein, unsere Aufgabe ist, trotzdem einzutauchen: geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube, und dabei Augen und Herz offen zu halten. Und inmitten unseres Sterbens, da wir uns aus dem Sumpf erheben und schmählich in den Sumpf zurücksinken, ist es herrlich und ein Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt. Denn wenn Unheil und Katastrophe diesem Gemälde durch die Zeit gefolgt sind– so hat es auch die Liebe

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