Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
verstreuten Zeitungen, im Halbschlaf vor mich hin, und meine Träume waren größtenteils von der gleichen unbestimmbaren Bangigkeit getrübt, die auch durch die wachen Stunden sickerte: Gerichtsverhandlungen, geplatzte Koffer auf dem Rollfeld, meine Kleider überall verstreut, und endlose Flughafenkorridore, durch die ich zu Flugzeugen rannte, von denen ich wusste, ich würde sie nie erwischen.
    Dank meines Fiebers hatte ich viele und extrem lebhafte Träume, in denen ich mich schweißnass hin- und herwälzte und kaum wusste, ob es Tag oder Nacht war, aber in der letzten und schlimmsten dieser Nächte träumte ich von meiner Mutter. Es war ein kurzer, geheimnisvoller Traum, der sich eher anfühlte wie eine Heimsuchung. Ich war in Hobies Laden– besser gesagt, in einem spukhaften Traumraum, eingerichtet wie eine skizzenhafte Version des Ladens–, als sie plötzlich hinter mir auftauchte und ich sie in einem Spiegel sah. Bei ihrem Anblick war ich gelähmt vor Glück. Sie war es, bis ins kleinste Detail, bis zum Muster ihrer Sommersprossen. Sie lächelte mich an, schöner und doch nicht älter, mit ihrem schwarzen Haar und dem komisch aufwärts gekräuselten Mund, kein Traum, sondern eine Erscheinung, die den ganzen Raum erfüllte: eine Kraft für sich, eine lebendige Andersheit. Und so gern ich es wollte, ich wusste, ich konnte mich nicht umdrehen. Sie direkt anzusehen, wäre ein Verstoß gegen die Regeln ihrer Welt und der meinen. Sie war auf dem einzigen Weg zu mir gekommen, der ihr offenstand, und für einen langen, stillen Augenblick trafen sich unsere Blicke im Spiegel. Aber gerade, als sie anscheinend etwas sagen wollte– in einer Kombination aus Erheiterung, Zuneigung und Verdruss–, schob sich eine Dunstwolke zwischen uns, und ich wachte auf.
    II
    Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie am Leben geblieben wäre. Aber sie starb, als ich klein war, und obwohl ich an allem, was mir seitdem passiert ist, zu hundert Prozent selbst schuld bin, verlor ich doch mit ihr den Blick für jede Art von Orientierungspunkt, der mir den Weg zu einem glücklicheren Ort hätte zeigen können, hinein in ein erfüllteres oder zuträglicheres Leben.
    Ihr Tod also der Grenzstein. Vorher und Nachher. Und auch wenn es so viele Jahre später ein trostloses Eingeständnis ist, habe ich doch nie wieder jemanden kennengelernt, der mir wie sie das Gefühl gab geliebt zu werden. In ihrer Gesellschaft erwachte alles zum Leben. Sie verströmte ein verzaubertes Theaterlicht, und was man durch ihre Augen sah, leuchtete in kräftigeren Farben als sonst. Ich erinnere mich, dass ich ein paar Wochen vor ihrem Tod spätabends in einem italienischen Restaurant im Village war und wie sie mich am Ärmel packte angesichts der plötzlichen, beinahe schmerzhaften Schönheit einer Geburtstagstorte mit brennenden Kerzen, die in einer Prozession aus der Küche hereingetragen wurde, ein matter Lichtschein, der flackernd über die dunkle Decke huschte, und wie die Torte im Kreis der Familie auf den Tisch gestellt wurde und das Gesicht einer alten Lady selig leuchten ließ, während ringsum gelächelt wurde und die Kellner mit den Händen auf dem Rücken zurückwichen– ein gewöhnliches Geburtstagsessen, wie man es überall in einem preiswerten Downtown-Restaurant zu sehen bekommen kann, und ich bin sicher, ich würde mich gar nicht daran erinnern, wenn sie nicht so kurz danach gestorben wäre, aber nach ihrem Tod habe ich immer wieder daran gedacht, und wahrscheinlich werde ich mein Leben lang daran denken– an diese Runde im Kerzenschein, ein tableau vivant des täglichen, alltäglichen Glücks, das ich verlor, als ich sie verlor.
    Und sie war schön. Das ist eigentlich zweitrangig, aber sie war es. Als sie frisch aus Kansas nach New York gekommen war, arbeitete sie als Teilzeit-Model, obwohl ihr Unbehagen vor der Kamera zu groß war, als dass sie es gut gekonnt hätte: Was immer sie Besonderes an sich hatte, es fand seinen Weg nicht auf den Film.
    Aber sie war ganz und gar sie selbst: eine Rarität. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einen Menschen gesehen zu haben, der wirklich Ähnlichkeit mit ihr gehabt hätte. Sie hatte schwarzes Haar, helle Haut, die im Sommer von Sommersprossen gesprenkelt war, und porzellanblaue Augen, in denen helles Licht leuchtete, und in ihren schrägen Wangenknochen lag eine so exzentrische Mischung aus Naturvolk und keltischem Zwielicht, dass die Leute manchmal vermuteten, sie stamme aus Island. In Wahrheit

Weitere Kostenlose Bücher