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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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haben ein paar Gänge zu erledigen « , sagte meine Mutter nicht sehr überzeugend, als sie begriff, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Normalerweise achtete ich nicht weiter auf das, was sie anhatte, aber was sie an diesem Morgen trug (einen weißen Trenchcoat, ein zartes, pinkfarbenes Tuch, schwarzweiße Slipper), hat sich so tief in mein Gedächtnis eingegraben, dass es mir jetzt schwerfällt, mich noch anders an sie zu erinnern.
    Ich war dreizehn. Mir graut bei der Erinnerung daran, wie hölzern wir an diesem Morgen miteinander umgingen, so steif, dass selbst der Portier es bemerkte. Bei jeder anderen Gelegenheit hätten wir ganz vertrauensvoll miteinander geplaudert, aber an diesem Morgen hatten wir uns nicht viel zu sagen, denn ich war von der Schule suspendiert worden. Sie hatten sie am Tag zuvor im Büro angerufen; sie war schweigsam und wütend nach Hause gekommen, und das Schreckliche war, ich kannte den Grund für meine Suspendierung noch nicht mal. Allerdings war ich zu fünfundsiebzig Prozent sicher, dass Mr. Beeman auf seinem Weg von seinem Büro zum Lehrerzimmer exakt im falschen Augenblick aus dem Fenster am Treppenabsatz im ersten Stock geschaut und mich auf dem Schulgelände hatte rauchen sehen. (Genauer gesagt, er hatte mich mit Tom Cable herumstehen sehen, als der rauchte, was aber in meiner Schule praktisch auf denselben Verstoß hinauslief.) Meine Mutter konnte das Rauchen nicht ausstehen. Ihre Eltern– zu gern hörte ich Geschichten über sie, und sie waren unfairerweise gestorben, bevor ich Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen– waren leutselige Pferdetrainer gewesen, die im Westen umherreisten und ihren Lebensunterhalt mit der Aufzucht von Morgan-Pferden verdienten: Cocktails trinkende, Canasta spielende muntere Vögel, die jedes Jahr zum Kentucky-Derby fuhren und Zigaretten in silbernen Dosen im Haus aufbewahrten. Eines Tages, als sie aus den Stallungen kam, krümmte meine Großmutter sich vornüber und fing an, Blut zu husten, und während der restlichen Teenagerzeit meiner Mutter hatten Sauerstoffflaschen auf der Veranda gestanden, und die Schlafzimmerjalousien waren unten geblieben.
    Doch– wie ich befürchtete, und zwar nicht ohne Grund– Toms Zigarette war nur die Spitze des Eisbergs. Ich hatte schon seit einer Weile Ärger in der Schule. Es fing an– oder besser gesagt, der Schneeball kam ins Rollen–, als mein Vater ein paar Monate zuvor abgehauen war und meine Mutter und mich alleingelassen hatte. Wir hatten ihn nie besonders gemocht, und meine Mutter und ich waren die meiste Zeit viel glücklicher ohne ihn, aber andere Leute waren anscheinend schockiert und bestürzt, als er uns so unvermittelt verließ (ohne Geld, Kindesunterhalt oder Nachsendeadresse), und die Lehrer meiner Schule an der Upper West Side hatten so viel Mitleid mit mir gehabt und waren so eifrig bemüht gewesen, mir Verständnis und Unterstützung zu zeigen, dass sie mir– einem Stipendiaten– alle möglichen Zugeständnisse und Fristverlängerungen und zweite und dritte Chancen einräumten. Im Laufe der Monate ließen sie mich immer weiter an der langen Leine laufen, bis ich es schließlich schaffte, mich daran in ein sehr tiefes Loch abzuseilen.
    Also waren wir beide– meine Mutter und ich– zu einer Konferenz in die Schule gerufen worden. Die Sitzung sollte erst um halb zwölf anfangen, aber weil meine Mutter zwangsläufig den Vormittag hatte freinehmen müssen, waren wir schon früh unterwegs zur West Side– zum Frühstücken (und, wie ich vermutete, zu einem ernsthaften Gespräch) und damit sie ein Geburtstagsgeschenk für eine Arbeitskollegin kaufen konnte. In der Nacht zuvor war sie bis halb drei auf gewesen; sie hatte mit angespanntem Gesicht im Schein des Computerbildschirms gesessen, E-Mails geschrieben und versucht, für ihren arbeitsfreien Vormittag im Büro Klarschiff zu machen.
    » Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht « , sagte Goldie soeben ziemlich aufgebracht zu meiner Mutter, » aber ich sage, es reicht jetzt mit diesem feuchten Frühling. Regen, Regen… « Pantomimisch fröstelnd zog er seinen Kragen zusammen und schaute in den Himmel.
    » Ich glaube, heute Nachmittag soll es aufklaren. «
    » Ja, ich weiß, aber ich bin jetzt bereit für den Sommer. « Er rieb sich die Hände. » Die Leute verlassen die Stadt, sie hassen ihn, beschweren sich über die Hitze, aber ich– ich bin ein Tropenvogel. Je heißer, je besser. Immer her damit! « Er klatschte in die Hände und ging

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