Der Dolchstoss
daß du nur die Wahl hast, zu fliehen oder lebendig verschlungen zu werden. Du solltest dein Urteil über Tylin aufschieben, bis du das erlebt hast.« Aviendha errötete aus einem unbestimmten Grund. Normalerweise verbarg sie ihre Empfindungen so gut, daß ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt wirkte.
»Ich weiß es«, sagte Elayne plötzlich. »Wir werden einen Beweis finden, den sogar Pedron Niall anerkennen muß.« Sie trat wieder in den Raum. Nein, sie schwebte. »Wir werden uns verkleiden und ihm folgen.«
Auf einmal stand nicht mehr Elayne in einem grünen Ebou-Dari-Gewand dort, sondern eine Domani mit einem dünnen, eng anliegenden blauen Gewand. Nynaeve sprang ungewollt auf und preßte die Lippen aus Verärgerung über sich selbst zusammen. Daß sie die Gewebe im Moment nicht sehen konnte, war kein Grund, sich durch das Trugbild erschrecken zu lassen. Sie warf Thom und Juilin einen raschen Blick zu. Sogar Thoms Mund stand offen. Sie umfaßte unbewußt fest ihren Zopf. Elayne würde alles verraten! Was war mit ihr los?
Ein Trugbild wirkte besser, je stärker man sich an das hielt, was - zumindest in Gestalt und Größe -vorher gewesen war, weshalb Teile des Ebou-Dari-Gewandes durch die Domani-Kleidung hindurch blitzten, als Elayne sich drehte, um sich in einem der beiden großen Spiegel des Raums zu begutachten. Sie lachte und klatschte in die Hände. »Oh, er wird mich niemals erkennen. Und dich auch nicht, Nächstschwester.« Plötzlich saß eine Tarabonin mit braunen Augen und blonden, mit roten Perlen der gleichen Schattierung wie ihr eng anliegendes Seidengewand geschmückten Zöpfen neben Nynaeves Stuhl. Sie sah Elayne fragend an. Nynaeve umschloß ihren Zopf fester. »Und wir dürfen dich nicht vergessen«, plapperte Elayne weiter. »Ich weiß genau das Richtige für dich.«
Dieses Mal sah Nynaeve das Schimmern um Elayne. Sie war zornig. Sie sah zwar die Stränge, die um sie gewoben wurden, konnte aber natürlich nicht erkennen, welche Gestalt Elayne ihr gab. Dazu mußte sie in einen der Spiegel sehen. Eine Meervolkfrau mit einem Dutzend mit Edelsteinen besetzten Ringen in den Ohren und doppelt so vielen von der zu ihrem Nasenring verlaufenden Kette herabhängenden Medaillons sah sie entsetzt an. Sie trug, abgesehen von dem Schmuck, lediglich eine weite Hose aus brokatdurchwirkter grüner Seide, wie es die Frauen der Athan'Miere außer Sichtweite des Landes zu halten pflegten. Es war nur ein Trugbild. Sie war unter dem Gewebe noch immer angemessen bekleidet. Aber... Neben ihrem Spiegelbild sah sie jene von Thom und Juilin, die sich beide bemühten, nicht zu grinsen.
Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Schließt die Augen!« schrie sie die Männer an und begann umherzuspringen, die Arme zu schwenken und alles zu tun, damit ihr Gewand hindurch schiene.
»Schließt sie, verdammt!« Oh. Sie hatten die Augen geschlossen. Starr vor Empörung hörte sie auf herumzuspringen. Jetzt bemühten sie sich jedoch nicht mehr, nicht zu grinsen. Und Aviendha bog sich offen vor Lachen.
Nynaeve riß an ihren Röcken - im Spiegel schien die Meervolkfrau an ihrer Hose zu zupfen - und sah Elayne starr an. »Hör auf damit, Elayne!« Die Domani erwiderte ihren Blick mit ungläubig geöffnetem Mund und geweiteten Augen. Erst jetzt erkannte Nynaeve, wie zornig sie war. Die Wahre Quelle lockte gerade außerhalb ihrer Sichtweite. Sie umarmte Saidar und errichtete rasch einen Schild zwischen Elayne und der Quelle. Oder zumindest versuchte sie es. Jemanden abzuschirmen, der die Macht bereits festhielt, war nicht leicht, selbst wenn man der Stärkere war. Als Kind hatte sie einmal Meister Anvils Hammer so hart wie möglich auf den Amboß geschlagen, und die Erschütterung hatte sich bis in ihre Zehen fortgesetzt. Dies war ungefähr doppelt so stark. »Liebe des Lichts, Elayne, bist du betrunken?«
Das Schimmern um die Domanifrau schwand, wie auch die Domanifrau selbst. Nynaeve erkannte, daß auch das sie umgebende Gewebe verschwunden war, aber sie schaute noch immer in den Spiegel und atmete erleichtert auf, als sie dort Nynaeve al'Meara in mit gelben Schlitzen versehenem Blau sah.
»Nein«, sagte Elayne zögernd. Ihr Gesicht war gerötet, aber nicht aus Verlegenheit - nicht nur. Sie reckte ihr Kinn empor, und ihre Stimme wurde eisig.
»Ich bin es nicht.«
Die Tür zum Gang wurde aufgerissen, und Birgitte torkelte mit breitem Lächeln herein. Nun, vielleicht torkelte sie nicht ganz, aber sie lief entschieden
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