Ruf der Sehnsucht
Prolog
September 1782
J eanne du Marchand würde nie den Augenblick vergessen, in dem ihr Leben zerstört wurde, immer den genauen Wortlaut im Ohr behalten, immer spüren, wie ihr der Atem stockte und das Herz plötzlich bis zum Hals klopfte.
Doch an jenem herrlichen Septembermorgen deutete nichts auf die kommenden Ereignisse hin. Ein wolkenloser Himmel spannte sich über der lieblichen Landschaft. Ein weicher Wind trug den Duft von Lavendel und Rosen aus dem Garten zum offenen Fenster herein, und die Vögel in der Voliere trällerten ahnungslos ihr Liedchen.
Mit schwingenden Röcken ging Jeanne den Korridor hinunter zur Bibliothek ihres Vaters. Eine Lakai öffnete ihr die deckenhohe Tür. Jeanne trat ein und wartete schweigend darauf, dass ihr Vater sie ansprach. Als Kind war sie oft hierher zitiert worden, um sich einen Tadel abzuholen. Seit einigen Jahren war es immer öfter ein Lob in Form eines Lächelns, das der Graf ihr quasi als Prämie für Lernerfolge bewilligte.
In letzter Zeit hörte er sie allerdings nur noch selten ab. Nicholas Comte du Marchand war ein vielbeschäftigter Mann. Ganz Paris schien in diesem Spätsommer viel beschäftigt zu sein. Wo immer Jeanne hinkam, hörte sie vom Krieg gegen Amerika reden. England war im Begriff, ihn zu verlieren, und Frankreich als Verbündeter des jungen Landes in Ekstase.
Der Adelshof in Paris war vornehm, Bibliothek und Arbeitszimmer des Comte einer der schönsten Räume darin mit den Deckenfresken, den von goldenen Zierleisten gerahmten Feldern mit Szenen vom Landschloss Vallans. Die Wände waren mit einem dunklen Korallenrot bemalt, das einen spektakulären Hintergrund für die in Gold gerahmten Porträts der Ahnen derer du Marchand bildete. Goldene Akanthuskapitelle schmückten die Wandsäulen aus blassrotem Marmor. Auf dem Teppich rankte prachtvolles grünes und goldenes Blattwerk um ein großes beigefarbenes Oval. Am Ende des Raums stand, von Vorhängen in Korallenrot und Marineblau gerahmt, ein geschnitztes Polstersofa mit walzenförmigen Kissen rechts und links. Es saßen jedoch nur selten Gäste dort – die meisten zogen die mit Schnitzwerk verzierten gepolsterten Armsessel in der Nähe des Schreibtischs vor.
Die von ihrem Vater besonders geschätzten Bücher befanden sich auf der Galerie, zu der man über eine Treppe an beiden Enden der Längsseiten des Raums gelangte. Normalerweise schickte der Comte seinen Sekretär Robert hinauf, während er selbst hinter seinem massiven Mahagonischreibtisch mit der Flachreliefschnitzerei – Trauben und Blumen, dem Symbol von Vallans – sitzen blieb.
Paris mochte kulturell und politisch anregend sein, aber Vallans war das Stammschloss der du Marchands, was zu vergessen ihr Vater niemandem gestattete.
Jeanne blieb geduldig stehen, die Hände auf dem Rücken, die Schultern gerade, eine Haltung, die ihr als Kind wieder und wieder eingeschärft worden war.
Endlich blickte ihr Vater auf und ließ langsam seine Feder sinken. Sein Ausdruck ließ die übliche Zuneigung vermissen, und es lag kein Stolz in seinem Blick. Er winkte sie mit einem Finger zu sich – und auf einmal wusste sie, weshalb er sie hatte rufen lassen. Den goldenen Anhänger, ein Geschenk ihrer verstorbenen Mutter, mit einer Hand umschließend, zwang sie sich zur Ruhe und folgte der stummen Aufforderung.
Justine musste sie verraten haben.
Jeanne hatte die Hausdame schon lange im Verdacht, die Bettgefährtin ihres Vaters zu sein, aber selbst wenn nicht, so hatte sie doch weitreichende Befugnisse und war offensichtlich seine Vertraute. Sie war stets genauestens über die Vorgänge im Haushalt, ob im Stadthaus oder in Vallans, informiert.
»Ist es wahr, Tochter?« Der Comte blickte beredt auf ihre Leibesmitte. »Erwartest du ein Kind?«
»Ja, Vater.« Gottlob übertrug sich das Flattern in ihrem Magen nicht auf ihre Stimme. Eigentlich hatte Jeanne ihren Zustand für sich behalten wollen, bis Douglas um sie anhielt.
»Bist du sicher?« Sein Blick bohrte sich in den ihren.
»Ja, das bin ich.« Sie lächelte. Kein Zornausbruch ihres Vaters könnte ihre Freude dämpfen.
»Dann hast du Schande über den Namen du Marchand gebracht.«
Seine Stimme klang so unbeteiligt, als spräche er mit einer Fremden über das Wetter, und es lag eine Gleichgültigkeit in seinen Augen, als empfinde er plötzlich nichts mehr für sie. Aber in ihrem Glück nahm Jeanne dieses Alarmzeichen nicht ernst.
Er senkte den Blick auf die vor ihm liegenden Papiere, als
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