Der Dolchstoss
daß sie, wenn sie es nicht täten, weit von Ebou Dar entfernt aufgegriffen würden und entweder schwiegen oder kein Gehör fanden. Vorsichtsmaßnahmen mußten getroffen und seit Jahren nicht mehr benutzte Schutzvorrichtungen eingesetzt werden. Aes Sedai waren jedoch fast allmächtig, so daß es keinen Unterschied machte, wie sie tief innerlich wußte.
»Älteste, wäre es möglich, daß die ältere der beiden in Wahrheit...? Wir haben die Macht gelenkt, und...«
Berowin brach kläglich ab, aber Reanne wußte, was sie hatte sagen wollen. Warum sollte eine Aes Sedai vorgeben, weniger zu sein, so viel weniger? Außerdem hätte eine wahre Aes Sedai sie alle um Gnade bittend auf die Knie gezwungen und nicht so ergeben dagestanden.
»Wir haben die Macht nicht vor einer Aes Sedai gelenkt«, sagte sie fest. »Wir haben keine Regel gebrochen.« Diese Regeln, deren erste lautete, daß sie alle eins waren, selbst jene, die eine Zeitlang höhergestellt waren, fanden bei ihr genauso strenge Anwendung wie bei jedermann sonst. Wie hätte es anders sein können, wenn jene, die höher standen, schließlich wieder niedrigere Positionen einnehmen mußten? Nur durch Bewegung und Veränderung konnten sie verborgen bleiben.
»Aber einige der Gerüchte erwähnen ein Madchen als Amyrlin, Älteste. Und sie wußte...«
»Aufrührer.« Reanne legte alle zornerfüllte Ungläubigkeit in dieses eine Wort. Daß jemand es wagen sollte, sich gegen die Weiße Burg zu erheben! Es war nicht ungewöhnlich, daß sich unglaubliche Geschichten mit solchen Menschen verknüpften.
»Was ist mit Logain, und der Roten Ajah?« fragte Garenia, und Reanne sah sie starr an. Sie nippte trotzig an ihrem Tee.
»Wie auch immer die Wahrheit aussieht, Garenia, es steht uns nicht zu, etwas zu kritisieren, was Aes Sedai möglicherweise tun.« Reanne preßte die Lippen zusammen. Das stimmte kaum mit ihren Empfindungen gegenüber den Aufrührern überein, aber wie konnte eine Aes Sedai so etwas tun?
Die Saldaeanerin beugte ergeben und vielleicht auch, um ihre störrische Miene zu verbergen, den Kopf, Reanne seufzte. Sie selbst hatte die Träume von der Grünen Ajah schon vor langer Zeit aufgegeben, aber es gab Frauen wie Berowin, die insgeheim hofften, daß sie eines Tages irgendwie zur Weißen Burg zurückkehren und trotz allem Aes Sedai werden könnten. Und dann gab es Frauen wie Garenia, die ihre Wünsche beinahe genauso schlecht geheimhalten konnten, obwohl diese Wünsche noch weitaus verbotener waren. Sie hätten Wilde tatsächlich akzeptiert und wären sogar ausgezogen, um Mädchen zu finden, die gelehrt werden konnten!
Garenia war noch nicht fertig. Sie bewegte sich stets hart am Rande der Disziplin und verletzte sie auch häufig. »Was ist mit dieser Setalle Anan? Die Mädchen wußten vom Zirkel. Herrin Anan muß es ihnen gesagt haben, obwohl - wie kann sie wissen...« Sie erschauderte auf eine für andere entschieden zu auffällige Art, aber sie hatte ihre Gefühle noch nie verbergen können, auch wenn sie es sollte. »Wer auch immer uns verraten hat, muß gefunden und bestraft werden. Sie ist Gastwirtin und muß lernen, ihre Zunge zu hüten!« Berowin keuchte, die Augen entsetzt geweitet, und sank schwer auf einen Stuhl.
»Erinnert Euch, wer sie ist, Garenia«, wies Reanne sie scharf zurecht. »Wenn Setalle uns verraten hätte, würden wir jetzt bereits nach Tar Valon kriechen und den ganzen Weg um Vergebung bitten.« Als sie ursprünglich nach Ebou Dar kam, hatte man ihr die Geschichte einer Frau erzählt, die tatsächlich zur Weißen Burg kriechen mußte, und nichts, was sie bisher von Aes Sedai gesehen hatte, ließ sie dies auch nur im geringsten in Frage stellen. »Sie hat die wenigen Geheimnisse, die sie kennt, aus Dankbarkeit bewahrt, und ich bin überzeugt, daß sie noch immer Dankbarkeit empfindet. Sie wäre bei ihrer ersten Geburt gestorben, wenn die Schwesternschaft ihr nicht geholfen hätte.
Was sie weiß, hat sie von unvorsichtigen Menschen erfahren, die glaubten, sie könne sie nicht hören, und diese wurden bereits vor über zwanzig Jahren bestraft.« Dennoch wünschte sie, sie könnte sich dazu bringen, Setalle zu größerer Vorsicht zu ermahnen. Sie mußte vor diesen Mädchen unachtsam gesprochen haben.
Die Frau beugte erneut den Kopf, preßte aber die Lippen eigensinnig zusammen. Reanne beschloß, daß Garenia zumindest einen Teil dieses Turnus in Abgeschiedenheit verbringen und besondere Anweisungen erhalten müßte, um ihr
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