Der dreizehnte Apostel
schnell aus dem Bus heraus, um alles zu erkunden!
OXFORD
20. Juni 1990
Die Wolken verzogen sich, und die regennasse High Street lag für kurze Zeit in das eigenartige, weißliche Licht getaucht, das es anscheinend nur in Oxford gibt. Lucy sah liebevoll auf das Bild: der sanft ansteigende Hügel, an dem sich die High Street hinau f schlängelt, zu beiden Seiten befestigt von der Reihe alter Colleges, die ihre spitztürmigen Steinfassaden zur Straße wende n; geschmückt von der georgiani schen Ebenmäßigkeit des Queen’s College und der einzelnen Statue irgendeiner Königin, quasi einer Säulenheiligen, unter einem steinernen Baldachin über dem Tor.
Lucy kramte in ihrer großen Tasche nach dem Reiseführer, bereit, Jahrhunderte von Überresten und Umbauten zu enträtseln. Sie ging in die Mitte des viereckigen Platzes, der von der St. Mary’s Church, dem All Souls’ College und der Bodleian Library gebildet wurde, zur Radcliffe Camera. Das bekannteste Ansichtskartenmotiv von Oxford wirkte, als hätte man es einfach auf den Rasen plumpsen lassen, nur weil es so gut hinpasste . Genauso unpraktisch erschienen Lucy ein Durchgang in der Mauer des All Souls’ College mit dem indischen Tadsch Mahal in Miniaturformat und die zwei schmückenden Türme, die vom Hauptgebäude dahinter pompös in den Himmel ragten; die Straße, die vom Platz wegführte, mündete weiter unten, vor dem Hertford College, in eine Imitation der Seufzerbrücke; jenseits davon stand, neben Christopher Wrens Sheldonian Theatre, ein Gebäude ähnlich dem griechischen Parthenon … es war wie ein steinerner Tummelplatz zärtlich geliebter architektonischer Verrücktheiten, und überall die vielgepriesenen Türme, wo immer man einen hatte errichten können.
Lucy war verzagt, weil sie in Oxford, aber dennoch nicht dort immatrikuliert war.
Sie bemerkte eine Gruppe schwatzender englischer Studentinnen in formlosen Pullovern, tristen Woll röcken und schwarzen Strümpfen, eine Modeauffas sung , die auch Lucy hätte zusagen können, die aber vor dem Hintergrund von Oxford ohnehin viel gewann. Alles, was ich habe, dachte Lucy düster, ist das lausige, blöde Chicago. Okay, Chicago ist eine große Universität, aber verflixt, Rockefeller baute einen großen Teil der pseudogotischen efeubewachsenen Gebäude in den 30er Jahren, und es ist der stehende Witz der Einheimischen, John D. habe damit bewiesen, daß man sogar Geschichte kaufen kann. Aber genau das kann man nicht! Weil die Universität von Chicago würdevoll, praktisch und unbestreitbar langweilig war, während Oxford, so wie Geschichte, albern und unpraktisch und, wie Lucy einräumte, vollendet romantisch war.
Ihr Stadtplan führte sie zu der grimmigen Tudor-Fassade des Braithwaite College, wo Dr. Shaughnesy ein Zimmer für sie organisiert hatte. Lucy zeigte dem Pförtner ihre Briefe mit den Abmachungen. Der mürrische, rotgesichtige Mann brummte, sah sie an, brummte erneut, wählte eine Telefonnummer, bekam keine Antwort, brummte wieder, las den Brief. Schließlich setzte er die Brille auf, um amtlich zu wirken. »Kann nicht behaupten, daß ich Ihnen helfen kann, Miss«, erklärte er. »Wir haben diese Woche den kanadischen Rasenbowling-Club hier, und die Zimmer sind belegt. Sie müssen das mit der Quästorin ausmachen. Mrs. Miggins. Und darum beneid’ ich Sie nicht.« Er gab Anweisungen, wie Lucy zur Quästur kam.
Rasch inspizierte sie den Innenhof hinter dem Tor. Auf einer gleichmäßigen Grünfläche in der Mitte wiesen mehrere übergroße Schilder darauf hin, daß niemand den Rasen betreten dürfe. Diese Schilder waren das Auffälligste in dem gruftartigen Innenhof. Lucy folgte dem Kopfsteinpflasterweg, der um den sakrosankten Rasen führte, bis sie zu einem dreistöckigen Bau kam. Durch den Eingang Nummer III betrat sie einen feuchten Durchgang und von dort einen weiteren Innenhof voller Warnschilder, von dort führte ein Durchgang in den Magistergarten, den nur Magister benutzen durften. Von dort stieg sie über eine Außentreppe zu einer Bibliothek empor, die für Besucher verboten war. Lucy, die sich an Alice im Wunderland erinnert fühlte – von einem Oxforder Universitätslehrer geschrieben, fiel ihr dabei ein –, fand schließlich einen weiteren Durchgang, der in einen dritten und letzten Innenhof und zum Eingang Nummer XIII führte, der Quästur.
»Wir können das einfach nicht anerkennen«, hauchte Mrs. Miggins und ließ den Brief sinken, den Schmerz sämtlicher Martyrien in
Weitere Kostenlose Bücher