Der dreizehnte Apostel
wirklich«, sagte die ältere Frau mit Flüsterstimme. »Ich komme aus Amerika«, erklärte Lucy, »ich will nur hinaussehen.«
»Ja, es ist wirklic h hübsch, aus dem Fenster zu se hen.« Das war’s. Erste Unterhaltung in England.
Zumindest konnte sie Judy beim Zurückkommen erzählen, daß sie sich unterhalten hatte, Freundschaft geschlossen, mit Leuten geredet hatte. Es war wichtig, daß sie das Judy, mit der sie in der Kimbark Street zusammenwohnte, beweisen konnte. Judy behauptete eisern, Lucy setze sich nie durch und unternehme nie etwas, was ihr Spaß mache. Es hatte sie schwer beeindruckt, daß man Lucy ausgesucht hatte, für den Fachbereich nach Europa zu reisen.
Judy war Lucys beste Freundin aus College-Zeiten. Beide waren sie römisch-katholisch, beide gingen sie auf die nichtkatholische Universität von Chicago, beide hatten sie nun den niedrigsten akademischen Grad erlangt, was ihre jammernden Eltern erst einmal hinters Licht führte. Vielleicht sollte man besser sagen, daß sie nun lebenslängliche Uni-Gefangene waren, die im schmutzigen Studentenghetto im größten aller Ghettos, der South Side von Chicago, lebten. Lucy hatte zunächst mit Altphilologie angefangen und dann zu Theologie gewechselt, Spezialgebiet Alte Sprachen. Welten lagen zwischen dem St. John’s Greek mit seiner Atmosphäre des Altgriechischen und dem neuen Studienort. Lucy musste regelmäßig einen Spießrutenlauf hinter sich bringen, um in ihre Seminare zu kommen: die Kids aus den Armenvierteln, die sie belästigten, die betrunkenen Obdachlosen, über die sie steigen oder denen sie ausweichen musste , der unverblümte Drogenhandel an jeder Straßenecke, der dem naivsten Polizisten auffallen musste , die Trillerpfeife, die sie aus Angst vor Vergewaltigung stets bei sich trug, ihr privater Zeitplan, wann sie bestimmte Orte, bestimmte Züge, bestimmte Bushaltestellen mied. Hier ungefähr mischte sich die keifende Stimme ihrer Mutter in ihre Erinnerungen: »Du solltest zu Hause wohnen, so wie jede anständige junge Dame.«
Als unverheiratete junge Frau nicht zu Hause zu wohnen, bedeutete laut Mrs. Dantan Orgien und Hurerei, lukullische Völlereien, Sodom und Gomorrha.
Sie sah Lucy in der Rolle einer Valeria Messalina und war stets besorgt, die Tochter könnte schwanger und ohne Verlobungsring heimkommen. Wäre es doch so, Mom, dachte Lucy, wäre es doch so! Alles lieber als diese stumpfe Langeweile mit Judy. Judy studierte Psychologie, was Lucy ebenso albern wie verräterisch fand. Alle Psychologiestudenten, hatte Lucy festgestellt, brauchten immer Leute zum Reden, die noch verzweifelter an Problemen litten, so daß sie selbst das Gefühl haben konnten, ihr eigenes Leben sei gar nicht so verpfuscht und sie hätten Antworten parat. Nein, das war grausam gegenüber Judy. Aber Judy machte sie fertig. »Kann ich deinen Pullover anziehen?« fragte sie etwa. »Deinen selbstgestrickten? Ich glaube, wir haben ungefähr dieselbe Größe, und wenn es bei dir funktioniert, kaschiert er wohl auch mein Fett.«
Judy machte immerzu irgendeine erfolglose Diät und verkündete mit Wonne, Lucy und sie seien Schwestern in ihren Gewichtsproblemen. Lucy war wohl ein bisschen pummelig, maximal zehn Kilo Übergewicht, pummelig eben wie eine rosige, sommersprossige Amerikanerin irischer Abstammung, aber sie war keine so fette Kuh wie Judy. Oder Judy ereiferte sich: »Ich wünschte, man hätte uns nicht katholisch erzogen. Deswegen hinkt unser Leben Jahrzehnte hinter dem anderer Frauen her.« Und sie fuhr fort: »Ich meine, du willst gar nicht wirklich Theologie studieren, du tust das nur aus Schuldgefühl, weil du nicht Nonne geworden bist, wie deine Mutter es wollte.« Damit mag Judy nicht unrecht haben, gab Lucy innerlich zu. »Und wenn wir nicht katholisch erzogen worden wären, hätten wir beide bis jetzt schon fünfzig Freunde gehabt. Deswegen sind wir neurotisch, was Sex anbelangt.«
Ja, das war auch so ein Ritual. Bei den vegetarischen Schmortopfgerichten, während die Lokalnachrichten im Fernsehen plärrten, wenn sie Magermilch tranken, als Vorspeise Natur Joghurt aßen und danach eine tiefgefrorene Thunfisch-Lasagne von Weight Watchers – immerzu die endlose Diskussion über Männer, Männer, Männer. Lucy war keine Frau, die Tag und Nacht über Männer nachdachte, weil ihr, offen gesagt, nur sehr wenige Typen, die sie kennengelernt hatte, besonders gefallen hatten. Katholisch oder nicht, sie hielt die meisten männlichen Exemplare der
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