Der dreizehnte Apostel
mit dem Ruf, jeweils die Creme ihrer Generation zu sein; sie kommen zusammen, um zu trinken und zu reden und sonst nicht sehr viel zu tun. Die Prüfung, um zu dieser Elite gehören zu dürfen, war äußerst knifflig. Man musste Examen in zwei der folgenden Fächer ablegen
– in Jura, Geschichte, Philosophie, Wirtschaft, Politik, Literatur oder Altphilologie, ferner drei ausgezeichnete Essays liefern, Übersetzungen aus einer alten Sprache vorlegen und eine mündliche Prüfung bestehen. Manche Zugehörigkeiten als Fellow verfielen bei einer Heirat, so wie es im Mittelalter gewesen war. Und dann gab es noch den Essenstest. Wenn man ein schlechter Unterhalter oder gesellschaftlich ein Trottel war, konnte es sein, daß die anderen mit schwarzen Kugeln gegen einen stimmten. Um es dem Kandidaten schwerer zu machen, wurde ein wahrer Hindernislauf schwierig zu essender Gerichte serviert: Glitschige Spaghetti waren zu bewältigen, Schnecken mit der Schneckenzange, kleine Wildhühner mit Messer und Gabel; ein Dessert aus Kirschen zum Abschluss sollte zeigen, was der Kandidat mit den Kernen anstellte. Eine höchst seltsame, unerklärliche Einrichtung war dieses All Souls’ College. »Entschuldigen Sie«, sagte Lucy zu dem diensthabenden Pförtner am Eingang. »Ich suche nach einem Professor, der hier zu Gast ist, ein Dr. Patrick O’Hanrahan.«
»O ja, Miss«, nickte der Pförtner mitleidig. »In der Bibliothek, vermute ich. Wenn er nach gestern Abend schon aus dem Krankenzimmer zurückgekommen ist. Oder im Gemeinschaftsraum der Fellows … in der Nähe des Sherryschranks.« Aha, dachte Lucy, er wird seinem Ruf gerecht. Sie hatte eine schwache Erinnerung an den Emeritus O’Hanrahan aus der ersten Zeit ihres Studiums, als sie seinen Einführungskurs ins Hebräische belegt hatte. Dr. O’Hanrahan erschien blau zur ersten Vorlesung und erzählte wilde Stories von seiner Arbeit an den Schriftrollen vom Toten Meer und seinem Aufenthalt in Jerusalem 1948, als die Bomben rings um ihn her einschlugen. Kein professorenhaftes Benehmen, aber als er fertig war, gab es niemanden mehr im Raum, der nicht begierig war, Hebräisch zu lernen. Von der nächsten Woche an wurde er von einem graduierten Studenten vertreten, und der Kurs kehrte zu der herkömmlichen Langeweile aller Sprachkurse zurück.
Nachdem Lucy sich ein paarmal verlaufen hatte, erkundigte sie sich erneut, und man wies ihr den Weg zu einer schmalen Seitentür des Gebäudes, jenseits der Kapelle. Sie trat in einen kleinen, angemessen mit alten, ledergebundenen Büchern, kleinen antiken Tischen und Vasen ausgestatteten Raum. Aber nichts bereitete sie auf den Anblick vor, der sich ihr hinter der nächsten Tür bot: die Codrington Library, das großartigste Beispiel georgianischer Architektur in Oxford. Eine Palasthalle mit einem Schachbrettfußboden aus weißem und schwarzem Marmor, umschlossen von drei Stockwerken alter Bücher und Manuskripte, die in hochaufragenden altmodischen Bücherschränken mit dunkelgrünen Flecken aufgereiht standen. Bibliothekare und Assistenten kletterten auf gefährliche Leitern, um an die oberen Reihen heranzukommen, hasteten wackelige Geländer und Galerien entlang, während unten, symmetrisch angeordnet auf der Marmorflucht, alte Schreibpulte standen, die perfekt zu Tintenfässern, Federkielen und Folianten passten und an denen Studenten in himmlischer Stille über modernen Büchern arbeiteten. Die weiße Marmorstatue eines selbstzufriedenen Granden aus der Zeit König Jakobs beobachtete die Studenten vom Ende der Halle aus, als wolle sie diese Ruhe sicherstellen.
»Kann ich Ihnen helfen?« flüsterte eine Bibliothekarin, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Reiher hatte. »Sie müssen einen Leseausweis haben, um hier zu arbeiten.«
Lucy nutzte die Gelegenheit. »Ich bin hier, weil ich Dr. O’Hanrahan suche.«
»Oh«, antwortete die Dame, und legte unüberhörbaren Überdruss in diese Silbe. »Nein, heute Nachmittag ist er nicht hier, und ich erwarte ihn auch nicht …« Aber im selben Moment erbleichte sie. Lucy drehte sich um und sah einen Mann durch die Katalogabteilung in den Hauptlesesaal stürmen. Sie erhaschte nur einen kurzen Blick, aber es gab keinen Zweifel: Es war Dr. O’Hanrahan, und seine Anwesenheit bedeutete für sie einen Schock.
Dr. O’Hanrahan ergriff Besitz von einem Schreibpult auf halber Höhe in dem riesigen Saal und ließ seine Bücher, Papiere und eine Aktentasche polternd fallen, so daß die wenigen
Weitere Kostenlose Bücher