Der dritte Berg
die zu alldem nichts beitragen konnte, fragte mich noch in Delhi, was denn der Inhalt des Gesprächs in San Felice del Benaco gewesen sei.
Ich antwortete ausweichend. Das Unbekannte und Unmögliche habe Christian immer angezogen, sagte ich. Die Ereignisse, sie seien die Antwort. Ich weiß nicht, warum ich so reagierte. Doch begriff ich, dass in diesem Gespräch am Gardasee der Grund für Maggies Ermordung liegen musste. Ich will darüber nicht im Detail berichten. Es ist alles Vergangenheit, ich versuche davon wegzukommen. Doch das Gespräch, ja, es handelte im Kern von den terrae incognitae , und Christian konnte von Whininghams Theorie des letzten Orts und letzten Dings gehört haben, denn er vertrat – dort am windigen See – die uns zu jener Zeit völlig abwegig erscheinende Meinung, es gebe eine solche terra incognita , und sie berge zugleich die letzte große Entdeckung, den »ultimativen weißen Fleck auf der Landkarte der menschlichen Eroberungen« (oder würde in der Folge zu ihm führen), »und vielleicht die Rechtfertigung für alles«. Was Maggie so sehr daran missfallen haben mag, dass sie sich gegen Christian stellte, wird wohl niemand mehr herausfinden.
Vielleicht hat sie einfach beschlossen, dem Wahn einen Riegel vorzuschieben. Jemand muss das ja beenden.
Dann gab es da noch diesen unfertigen und unveröffentlichten Artikel Christians über Soma, der in meine Hände gelangt war. Ich habe ihn bestimmt zehn Mal gelesen. Er beschreibt sieben neue, bisher unbekannte Hymnen des neunten Buches des Rigveda, die Christian in jener Palmblatthandschrift aus Pandit Geomlis Besitz entdeckt hat. Ich hatte also recht mit meiner Vermutung, dass es sich bei dieser Handschrift um eine neue Version des neunten Buches handelte, die die Zeiten überdauert hatte. Und sie enthielt zahlreiche bislang völlig unbekannte Texte.
Man hatte nun versucht, dieses neue Palmblattmanuskript des neunten Buches ausfindig zu machen. Doch es befand sich nicht mehr in Pandit Geomlis Besitz. Pandit Geomli selber hatte von dem Manuskript in seinem Besitz keine Kenntnis gehabt und die ganze Angelegenheit versetzte ihn in helle Aufregung. Der Gedanke liegt nahe, dass Christian das Manuskript in Kathmandu gestohlen und an einem unbekannten Ort aufbewahrt hat. Aus diesem Grund kennt man jetzt nur noch Christian Fusts handgeschriebene, in seine rot gebundene Ausgabe des neunten Buches eingelegte Abschrift jener bisher unbekannten Hymnen. Eine Abschrift, welche nun aber jeder Grundlage entbehrt. Es fehlt der Beweis für die tatsächliche Existenz dieser Texte. Sie könnten ebenso gut Sanskrit-Dichtungen aus der Feder Christian Fusts sein. Und von dem angeblich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Kommentar, den Christian einem gewissen Virachara Bhatta zuschreibt, weiß man – mit Ausnahme der Andeutungen in Christians Notizbüchern und der Überschrift, die er den neuen Hymnen voranstellt – überhaupt nichts.
Christians Artikel über Soma und die neuen Soma-Hymnen referiert nun anfangs die Geschichte von Soma, das Auftauchen dieser Pflanze in der vedischen Literatur vor bald viertausend Jahren sowie Somas Nähe zum lateinischen Wort inmortalis und dem griechischen ambrosia , da Soma in späterer Zeit auch oft amrita genannt worden ist, was »das Unsterbliche« oder »der Unsterblichkeitstrank« bedeutet.
So weit die bekannten Dinge. Gänzlich neu sei aber nun Folgendes: Traditionell hätten die Fundstellen der Soma-Pflanze in Kaschmir und in den Mujavat-Hügeln gelegen. Die angeblich neuen Hymnen sprächen jedoch auch von Fundstellen »weit im Osten« ( duram pracīne ), wahrscheinlich in der Nähe des Sagarmatha (Mount Everest) und des Kanchanjanghā, also des höchsten sowie des dritthöchsten Berges der Welt, die sich in nur hundertfünfzig Kilometer Entfernung voneinander befänden. Darüber hinaus würden diese neu entdeckten Hymnen ein für alle Mal klären, dass es sich bei Soma nicht um ein Rauschgetränk, sondern um eine potente Medizin handle, die tief in die Zellstrukturen eingreife. Soma werde bezeichnet als rahasyam jagatām , »das Geheimnis alles Lebendigen«, und es gewähre ein Leben, das »Hunderte Herbste« lang sei. Außerdem seien in diesen Hymnen Beschreibungen der Soma-Pflanze zu finden, die den Schluss zuließen, bei Soma handle es sich um ein Sukkulentengewächs aus der Familie der Caryophyllaceae.
Eine der in Frage stehenden, angeblich neuen Hymnenstrophen lautet in Christians Übersetzung
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