Der dritte Berg
er die eine oder andere erfolgreiche NGO .
Wie immer sitze ich das aus und warte, bis mein Vater diesen Gedanken wegscheucht. Das dauert. Es ist ein alter, zäher Gedanke. Er wendet seinen Blick schlieÃlich einem Bild meiner Mutter zu, das neben dem Fernsehgerät steht. Ãber der Fotografie hängt eine Kette aus Holzkugeln, die er einmal auf Reisen in Indien gekauft hat.
»Kennst du das letzte Ding?«, fragt er.
»Wie bitte?«
»Das letzte Ding und den letzten Ort. Nach einer interessanten Theorie sind die beiden das Ziel unserer Kultur. Und warum sollte das letzte Ding keine ganz besondere, den alten Indern bekannte Heilpflanze sein und der letzte Ort sich nicht in Indien befinden?«
»Unsinn.« Ich begreife nicht, was er sagen will, und noch weniger, wie er mit einer solch abenteuerlichen Sache daherkommen kann.
»Edgar Whiningham hat diese, nennen wir sie, These vor zwanzig Jahren formuliert. Er mutmaÃt, dass ganze Bündnisse von Intellektuellen und Wissenschaftlern existieren, oder von Leuten mit Geld und Einfluss, die an der Erfüllung dieser Mission arbeiten. Wie immer sie ihre Arbeit auch nennen mögen, und ob sie Whininghams These kennen oder nicht. Für Whiningham ist unsere Kultur, und mit ihr der Kapitalismus selber, strukturell teleologisch. Würde sie also nicht auf ein letztes Ziel, ein telos , hinstreben, würde sie ein tragendes Grundprinzip ihrer selbst verletzten. Deshalb sind der letzte Ort und das letzte Ding die strikt logische, letzte Konsequenz aus westlicher Kultur und Zivilisation. Es ist nach Whiningham damit die letzte Konsequenz des Kapitals! Und was dieses letzte Ding sein soll, weià keiner. Oder der letzte Ort. Ich nehme nicht an, es ist ein dummer Spaziergang auf dem Mars, auch keine neue Energiequelle. Das wäre doch lächerlich.«
»Und woran denkst du ?«
»Das Ende aller Physik in einer vereinigten Feldtheorie, die Zauberdinge möglich macht. Oder der Schlüssel zum ewigen Leben. Beispielsweise .«
»Pah«, mache ich.
»Es ist mein voller Ernst. Und dein Freund Christian muss da auf etwas auÃerordentlich Wichtiges gestoÃen sein. Vertrau mir, ich rieche das.«
Es ist die Aufgabe von Vätern, Ãberzeugung auszustrahlen, das hier geht mir aber zu weit. Und er begründet es mit seiner guten Nase.
»Ich will zu Schmithausen«, sage ich schnell. Ich beachte Regel Nummer eins: Vermeide jede Diskussion mit deinem Vater.
»Dann am besten morgen früh«, sagt er. »Bevor er zur Universität geht.«
Mein Vater steht auf und holt sein Telefon. Während er mit Xaver Schmithausen spricht, habe ich eine Idee. Sie hat mit einem Haus, einem Schreibtisch, einer defekten Tür und einer kleinen Kletterei zu tun.
»Morgen Vormittag, gegen elf Uhr«, sagt mein Vater. »Der übereifrige Kerl scheint vorher tatsächlich auf der Universität zu sein.«
Da er schon steht, macht er sich auf den Weg in die Küche. Er ist auf den Gedanken gekommen, ich könne durstig sein. Ohne mich gefragt zu haben, kommt er mit Pfirsichsaft und Tonic zurück. Mein Vater bewahrt solche Getränke für Gäste auf und serviert sie dann nicht. Er macht ein zufriedenes Gesicht. Er hat ein Problem einer Lösung näher geführt und begonnen, alles in die richtigen Bahnen zu leiten. Unentbehrlich wie er ist und bis zu seinem Tod bleiben wird. Und vielleicht darüber hinaus.
»Warum schlägst du dich mit diesen Dingen rum?«, sagt er, als er sich wieder setzt. »Deine tote Freundin?«
Ich blicke auf. Es ist ein seltsames Gefühl, von seinem eigenen Vater verstanden zu werden.
»Oder sollten da gewisse kämpferische Gene endgültig die Oberhand gewinnen?«
Bei diesen Worten dreht er sich zu einem anderen Bild, das an der Wand hängt. Es zeigt einen Mann mit weichem Brahmanengesicht unter militärischer Kopfbedeckung. Der Blick ist visionär in die Ferne gerichtet, vielleicht betrachtet er auch bloà Geschützstellungen, die Lippen sind voll und das Kinn ist, wie bei meinem Vater und bei mir, nicht zu übersehen. Im Blick meines Vater, der seinen Vater niemals kennengelernt hat, steht jetzt eine abgründige Liebe. Und dazu noch ein ganzes Meer voll Melancholie und imaginierter Erinnerung.
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SHIVMANGAL RAI , Träger kämpferischer Gene, greift im März 1944 mit der Indian National Army das britische Imperium im Osten Indiens
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