Der dritte Berg
Kaffeetasse auf einen Zug leer. Es ist wohl nicht die erste heute. Schmithausen sieht vertrocknet aus. Seine Haut ist von feinsten Falten ziseliert.
»Der ganze indische Subkontinent, das wissen Sie doch bestimmt, Bernard, ist voll mit Pflanzen und Kräutern, die nirgendwo sonst auf der Welt zu finden sind. Abertausende! Allein in den letzten zwanzig Jahren hat man mehrere hundert neue Spezies entdeckt. Man hat sie nach Linné taxonomiert und einige von ihnen sind uns heute beinahe selbstverständlich. Nur haben wir noch wenig Kenntnis von ihrem Nutzen. In den alten indischen Heilsystemen aber hat man eine Menge über die Pflanzen auf dem Subkontinent gewusst. Etliche Wissenschaftler sitzen zurzeit an dieser faszinierenden Arbeit. Seifert in Bayreuth und mein Freund Hermann in Tübingen sind herausragende Spezialisten auf diesem Gebiet. Doch identifizieren Sie mal eine Pflanze, die ein alter Sanskrit-Text beschreibt, womöglich noch in Versform, nach neuzeitlichen botanischen Kriterien! Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis uns die Biologie hier bahnbrechende Entdeckungen beschert. Keine Kinkerlitzchen, so sagt man doch?«
Schmithausen legt eine Pause ein. Er gibt einem Meteorologen Gelegenheit, die Bedeutung der Biologie und die wolkige Nichtigkeit der eigenen Wissenschaft zu ermessen.
»In den letzten Jahren zum Beispiel haben wir Pflanzen gefunden, die für Escherichia coli , Proteus vulgaris oder Pseudomonas aeruginosa tödlich sind. Das sind Bakterien, die eine Menge verschiedener Entzündungen und Darmkrankheiten hervorrufen. Letzteres ist heute ein Krankenhauskeim und weist eine hohe Antibiotikaresistenz auf. Tödlich am Ende.«
»Und die Sache ist so brisant, dass â¦Â«, sage ich und breche ab.
»Dass �«, insistiert Schmithausen, der auf einmal hellwach ist. Und bestimmt nicht von seinem Milchkaffee.
»Dass dieser Maettgen Leibwächter um sich schwirren hat?«
»Leibwächter, ja, man befürchtet offenbar Schwierigkeiten.« Schmithausen lehnt sich zurück. Möglicherweise ist er erleichtert. Er fragt nicht, woher ich das mit den Leibwächtern weiÃ.
»Schwierigkeiten welcher Art denn?«
»Himmel nochmal, wenn ich das nur wüsste. Aber was ich Ihnen erzählt habe, fasziniert ja immer mehr Biologen, Pharmakologen, und das ganze Geld, das hinter diesen Leuten auf seine Chance lauert. Spionage also? In der Pharmabranche wird viel spioniert â in einem solch forschungsintensiven Wirtschaftszweig zählt Wissen natürlich alles. Man schleust eigene Leute ein, verschafft Mitarbeitern ein zweites Gehalt als Informanten, montiert Kameras und Mikrofone in Thermosflaschen, an Büstenhaltern und in Schuhen, und heutzutage stiehlt man sich auch noch in die Computersysteme. Die Unternehmen unterhalten ganze Geheimdienstabteilungen, die sie natürlich niemals so nennen würden.«
»Also wieder Indien«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Schmithausen.
»Ja, Bernard, die unendliche, alte Schatzkammer namens Indien.«
Stille folgt. Schmithausen ordnet seine Gedanken.
»Die Ethnobotanik«, sagt er schlieÃlich, ganz langsam, in seiner leeren Kaffeetasse nach Worten suchend, »kann sich der Geschichte der Völker, mit denen sie sich befasst, natürlich nicht ganz verschlieÃen. Was mich, mit Verlaub, auch zu einem kleinen Historiker macht. Und ich gebe es nur ungern zu: doch manchmal denke ich, an mir ist ein solcher Historiker verlorengegangen.« Schmithausen hüstelt. Für ihn sind das beinahe peinliche Enthüllungen. Ich sehe Schmithausen an.
»Und eines der faszinierendsten Kapitel der Weltgeschichte scheint mir doch die Kolonialisierung und Eroberung Indiens zu sein. Ihr Vater mag mein Interesse daran geweckt haben. Es gibt in diesem Zusammenhang Sachverhalte, die man nicht erwarten würde.« Schmithausens Gesicht leuchtet jetzt wieder. »Beeindruckend. Dieses Thema hat sich bei mir zu einer gewissen, sagen wir, Obsession entwickelt.«
Schmithausen bemerkt meine ratlosen Augen, die einen Augenblick lang die Mail Iskander Mahans über Vasco da Gama vor sich sehen, und er fasst sich kurz.
»Am Ende kommt man«, sagt er, »nach der Beschäftigung mit dieser ausufernden Thematik der europäischen Eroberungen in Asien, und da insbesondere in Indien â zu einem überraschenden Gedanken, zu einem Topos aus der Antike, der augenscheinlich alle Wissenschaft
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