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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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»Jerusalem überraschen«. Oder Jael zu sich zurückholen? Und Dimmi? Oder etwa diese Bude hier verkaufen und das Geld dazu benutzen, sich ein verlassenes Haus am Rand eines abgelegenen Moschaws in den obergaliläischen Bergen herzurichten? Oder umgekehrt? Hier Maurer, Zimmerleute und Weißbinder reinholen, alles von Grund auf erneuern lassen, die Rechnung seinem Vater schicken und damit ein neues Kapitel anfangen? Da kam die Sonne zwischen den Wolkenfetzen über dem Gilo-Viertel heraus und überschüttete einen der Berge mit zartemGoldlicht. Das Wort »Goldlicht« fand Fima diesmal zwar nicht übertrieben, ließ es aber lieber wieder fallen. Allerdings nicht bevor er es laut ausgesprochen und dabei eine lebhafte Freude verspürt hatte. Dann prüfte er laut die Worte »klipp und klar«. Und schmunzelte erneut vor Vergnügen.
    Eine Glasscherbe unten im Hof blitzte so strahlend auf, als habe sie den Weg gefunden und bedeute auch ihm mitzukommen. Im Geist wiederholte Fima die Worte seines Vaters: eine Handvoll Staub. Schnee von gestern. Grippe vom letzten Jahr. Aber statt Grippe kam ihm das Wort Gerippe.
    Worin ähnelte der erstarrte Schleuderschwanz an der Wand dem Kakerlak, den er unter dem Spülstein gesehen hatte, und worin unterschieden sie sich? Dem Anschein nach vergeudete keiner von beiden den Schatz des Lebens. Obwohl für sie offenbar ebenfalls Baruch Nürnbergs Urteilsspruch galt: Leben ohne Verstand und sterben ohne Lust. Jedenfalls ohne Tagträume von Regierungsübernahme und Friedensstiftung.
    Verstohlen öffnete Fima das Fenster, peinlich bedacht, ja nicht den grübelnden Schleuderschwanz aufzuschrecken. Und obwohl er bei seinen Freunden und auch in eigener Sicht als Tolpatsch galt, der mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen war, gelang es ihm, das Fenster lautlos aufzumachen. Jetzt war er sicher, daß dieses Geschöpf den Blick auf irgendeinen Punkt im Raum heftete, den auch er, Fima, fixieren mußte. Aus welcher entlegenen Provinz des Evolutionsreiches, aus welch dämmrigen Urgefilden der Dinosaurierzeit voll glutspeiender Vulkane, dampfender Dschungel und dunstwabernder Erde, Abermillionen Jahre vor all den Königen, Propheten und Heilanden, die hier durch die Berge von Bethlehem gezogen waren, mochte ihm dieses Lebewesen da zugesandt worden sein, das ihn nun aus eineinhalb Meter Entfernung irgendwie liebevoll besorgt anguckte. Wie ein fürsorglicher entfernter Verwandter, den Fimas Zustand bekümmerte. Tatsächlich ein waschechter Dinosaurier durch und durch, nur auf Eidechsengröße geschrumpft. Fima schien ihn zu beschäftigen, denn warum sonst bewegte er langsam den Kopf hin und her, als wolle er sagen: Ich muß mich über dich wundern. Oder als tue ihm Fima mit seinem unklugen Verhalten leid, obwohl ihm leider nicht zu helfen war. Das war die Bewegung, die man gemeinhin Kopfschütteln nennt.
    Und wirklich war das doch ein entfernter Verwandter, dessen Zugehörigkeit zu einem abgelegenen Familienzweig sich nicht leugnen ließ. Duund ich, mein Lieber, und auch wir beide und Trotzki haben viel mehr gemeinsam, als uns trennt: Kopf und Hals und Wirbelsäule und Neugier und Appetit und Glieder und Geschlechtslust und die Fähigkeit, zwischen Licht und Dunkelheit sowie zwischen Kälte und Wärme zu unterscheiden, und Rippen und Lungen und Alterungsprozeß und Gesichts- und Gehörsinn und Verdauungssystem und Ausscheidungsorgane und schmerzempfindliche Nerven und Stoffwechsel und Gedächtnis und Gefahrempfinden und ein verzweigtes Gewirr von Blutgefäßen und einen Fortpflanzungsapparat und ein begrenztes Regenerationssystem, das letztendlich auf Selbstvernichtung eingestellt ist. Und auch ein Herz, das als komplizierte Pumpe arbeitet, und Geruchssinn und Selbsterhaltungstrieb und die Begabung, zu fliehen, Unterschlupf zu suchen und sich zu tarnen, und ein Orientierungssystem und ein Gehirn und offenbar auch Einsamkeit. So zahlreich sind die Dinge, die wir hätten besprechen, vergleichen, voneinander lernen können. Außerdem muß man vielleicht eine noch entferntere Familienverbindung mit einbeziehen – die zwischen uns dreien und der Pflanzenwelt. Wenn wir die Hand beispielsweise auf ein Feigen- oder Weinblatt legen, kann doch nur ein Blinder die Ähnlichkeit in der Form verneinen, die Gabelung der Finger, das Geflecht der Röhren und Fasern, deren Aufgabe es ist, Nahrung zu verteilen und Abfall abzutransportieren. Und wer sagt, daß sich hinter dieser Verwandtschaft nicht eine noch dämmrigere

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