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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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gesunken – auf einem Korbschemel vor seinem Kurzwarenladen im Viertel Sichron Mosche. Ein kalter Zigarettenstummel klebte ihm an der Unterlippe. Die Bernsteinkette lag starr in seiner Hand. Am Finger trug er einen schweren Ring, von dem manchmal ein Lichtfunke sprühte. Fima blieb stehen und wagte es, ihn anzusprechen – mit äußerster Höflichkeit. In der dritten Person. Zögernd. Dürfe er den verehrten Herrn mit einer einzigen Frage bemühen? Über das verschrumpelte, faltige Antlitz huschte ein leichtes ironisches Zucken. Vielleicht war es nur das störende Gebrumm einer Fliege. Hat der Herr geruht, Die Brüder Karamasow zu studieren? Die Debatte zwischen Iwan und dem Teufel? Mitjas Traum? Oder das Kapitel über den Großinquisitor? Nein? Und was geruht der Herr auf jene Anfrage zu erwidern? Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch? Wird der Herr erneut das Argument benutzen: Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Oder: Ich werde sein, der ich sein werde? Darauf würde der Alte einmal sauer nach Tabak und Arrak aufstoßen, seine Hände, die so ausgedörrt wie die eines Weißbinders waren, umdrehen und sie ausgestreckt auf die Knie legen. Nur der Ring an seinem Finger würde einen Moment aufblitzen und wieder stumpf werden. Kaute er etwas? Grinste er? War er eingeschlafen? Fima würde also aufgeben. Sich entschuldigen und seines Weges gehen. Nicht rennend, nicht hastigen Schritts und doch wie jemand, der flüchtet und weiß, daß er flüchtet, und weiß, daß seine Flucht vergeblich ist.
    Vom Fenster aus sah er, wie die Sonne sich anstrengte, zwischen den Wolken freizukommen. Im Sträßchen und auch in den Bergen trat eine undefinierbare Veränderung ein. Es war kein Aufklaren, sondern nur ein leichtes Farbschillern, als sei die Luft selber mit Zögern und Zweifel beladen. Alles, was das Leben von Uri Gefen, Zwi, Teddy und den andern Mitgliedern der Gruppe ausfüllte, all diese Dinge, in die man Leidenschaft und Begeisterung investierte, erschienen Fima jetzt öde wie das Laub, das zu Füßen des kahlen Maulbeerbaums im Hof vor sich hinfaulte. Es gibt ein vergessenes Wunschziel, nicht Ziel, nicht Wunsch, auch nicht völlig vergessen, etwas ruft einen. Einen Moment fragte er sich, was es ihm ausmachen würde, heute zu sterben. Die Frage weckte nichts bei ihm: weder Angst noch Lust. Der Tod kam ihm banal vor, wie einer von WahrhaftigsWitzen. Und sein tägliches Leben war voraussehbar und ermüdend wie die Moralgeschichten seines Vaters. Er stimmte plötzlich mit den Worten des Alten überein, nicht hinsichtlich der Identität der Inder, sondern darin, daß die Tage freud- und ziellos vergingen. Schlemihl und sein Gefährte verdienten tatsächlich Mitleid, nicht Spott. Aber was hatte er mit denen zu tun? Er, Fima, strotzte doch vor unermeßlichen Kräften, deren Einsatz er nur wegen dieser Müdigkeit hinausschob. Als warte er auf den richtigen Zeitpunkt. Oder auf irgendeinen Donnerschlag, der die Kruste im Innern aufbrechen würde. Es wäre zum Beispiel möglich, in der Praxis zu kündigen. Dem Alten tausend Dollar abzuschwatzen, sich auf einem Frachter einzuschiffen und ein neues Leben anzufangen. In Island. Auf Kreta. In Safed. Er könnte sich für ein paar Monate in die Familienpension am Rand der Moschawa Magdiel zurückziehen und ein Bühnenstück verfassen. Oder ein Bekenntnis. Er könnte ein politisches Programm erarbeiten, Gleichgesinnte mitreißen und um sich scharen, eine neue Bewegung gründen, die die Apathie überwinden und sich wie ein Lauffeuer im Volk verbreiten würde. Man konnte auch einer der bestehenden Parteien beitreten, fünf, sechs Jahre eine emsige politische Tätigkeit entfalten, von Ortsgruppe zu Ortsgruppe ziehen, die nationale Lage in neuem Licht darstellen, bis selbst die verbohrtesten Geister aufgerüttelt waren, und so ans Ruder kommen und dem Lande Frieden bringen: 1977 war es einem bis dahin unbekannten Bürger namens Longe oder Lange gelungen, ins Parlament von Neuseeland gewählt zu werden, und 1984 lag die Regierung schon in seinen Händen. Man konnte sich verlieben, und man konnte in den Geschäftsbetrieb seines Vaters einsteigen und die Kosmetikfabrik zur Keimzelle eines Industriekonzerns machen. Oder im Flug die akademische Ausbildung abschließen, Zwi und seine Leute überrunden, die Fakultätsleitung übernehmen und eine neue Lehrmeinung begründen. Er könnte Jerusalem mit einem neuen Gedichtzyklus überraschen – wie lächerlich war doch der Ausdruck

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