Der dritte Zustand
Herrscher, moslemische Feldherren und christliche Kreuzritter, Asketen, Eremiten, Wundertäter und Schmerzensmänner umhergestreift. Bis heute läutet Jerusalem Kirchenglocken zu ihrem Gedenken, ruft klagend ihre Namen von den Minaretten der Moscheen, versucht sie mit kabbalistischen Kombinationen und Beschwörungen zurückzubringen. Doch jetzt, in diesem Moment, war augenscheinlich kein Lebewesen außer ihm, dem Schleuderschwanz und dem Licht mehr in der Stadt übriggeblieben. Als Junge hatte er auch bei seinem Stromern durch Gassen und Geröllfelder ein Raunen zu vernehmen gemeint. Ja, hatte einmal sogar versucht, in Worten aufzuschreiben, was er zu hören glaubte. Seinerzeit war er vielleicht noch imstande gewesen, ein paar Herzen zu erschüttern. Und noch immer vermochte er zuweilen einige Seelen, vor allem Frauen, in den Freitagsabendgesprächen bei den Tobias’ oder den Gefens zu faszinieren. Manchmal stellte er einen blendenden Gedanken in den Raum, und für einen kurzen Moment hielt alles den Atem an. Danach wanderten seine Ideen von Mund zu Ohr und gelangten gelegentlich sogar in die Presse. Ab und zu, wenn er guter Stimmung war, glückte es ihm, einen neuen Ausdruck zu prägen. Eine Lagebeurteilung in Worte zu fassen, die bisher niemand aneinandergereiht hatte. Eine eindringliche Zukunftsprognose zu erstellen, die in der Stadt die Runde machte, wobei es zuweilen vorkam, daß er sie einige Tage später – von ihm und seinem Namen losgelöst und häufig verfälscht – im Radio wiederhörte. Freunde erinnerten ihn gern – wie mit leichtem Tadel – daran, daß es ihm zwei-, dreimal gelungen war, das Kommende verblüffendgenau vorauszusehen, etwa 1973, als er von Haus zu Haus gezogen war und bis zur Lächerlichkeit die Blindheit, mit der der Staat Israel geschlagen sei, und das bevorstehende Unheil beklagt hatte. Oder am Vorabend des Libanonkriegs. Oder vor der islamischen Welle. Jedesmal, wenn die Freunde ihn an seine Weissagungen erinnerten, zuckte Fima zusammen und meinte verlegen lachend, das sei ja keine Großtat, die Schrift habe doch schon an der Wand gestanden, so daß jedes Kind sie lesen konnte.
Gelegentlich fotokopierte Zwi Kropotkin ihm aus einem Zeitungsfeuilleton oder einer Literaturzeitschrift eine Bezugnahme auf den Band Augustinus’ Tod , den irgendein Kritiker momentweise dem Vergessen entrissen hatte, um diese Gedichte als Schützenhilfe in seinem Krieg für oder gegen die heutige Lyrik einzusetzen. Fima zuckte dann die Achseln und murmelte, genug, Zwicka, laß doch. Seine Weissagungen und Gedichte erschienen ihm gleichermaßen fern von der Hauptsache: Wohin will die Seele sich aufmachen, ohne zu wissen, was sie erwartet? Was ist Wirklichkeit und was nur Schein? Wo kann man etwas Verlorenes suchen, von dem man vergessen hat, was es war? Einmal, in seinem Geißbockjahr während der kurzen Ehe mit der Pensionswirtin in Valetta, hatte er in einem Café vor den Lagerhäusern am Hafen gesessen und zwei Fischern beim Tricktrackspielen zugeschaut. Aber eigentlich weniger die beiden als einen Schäferhund beobachtet, der hechelnd auf einem freien Stuhl zwischen ihnen saß. Die Ohren dieses Hundes standen so gerade und steif nach vorn gerichtet, als wolle er heraushören, wie der nächste Zug verlaufen werde, wobei er unablässig mit den Augen, die Fima fasziniert, staunend und demutsvoll erschienen, die Finger der Spieler, das Rollen des Würfels und die Bewegungen der Steine auf dem Brett verfolgte. Nie im Leben, weder vorher noch nachher, hatte Fima je eine derart konzentrierte Anstrengung, das Unbegreifliche zu begreifen, gesehen. Als habe dieser Hund in seinem Lechzen nach Entschlüsselung sich der Stufe genähert, auf der man die Körperlichkeit abstreift. Und genau so müssen wir doch das uns Unzugängliche betrachten. Soviel wie möglich begreifen. Oder wenigstens begreifen, wie weit man nicht begreifen kann. Manchmal stellte sich Fima den Weltenschöpfer, an den er nicht so ganz glaubte, in der Gestalt eines sephardischen Jerusalemer Händlers um die Sechzig vor, hager, gebräunt, runzlig, von Zigaretten und Arrak zerfressen, in abgewetzten braunen Hosen und einem nicht besonders sauberen weißen Hemd, ohne Schlips, aber bis oben an den knochigen Hals zugeknöpft, ausgetretenen braunen Schuhenund einem etwas zu knapp sitzenden, ärmlichen Jackett von altmodischem Schnitt. Dieser Schöpfer saß stets dösend – das Gesicht zur Sonne, die Augen fast geschlossen, den Kopf auf die Brust
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