Der dritte Zustand
ihr einfarbiges Baumwollkleid, das an die Uniform einer Internatsschülerin erinnerte – all das weckte einen Anflug von Begehren, vermischt mit Schadenfreude über sich selbst: Ein Glück, daß sie zurückgeschreckt ist. Da hat sie dir die nächste Blamage erspart.
Der junge Siedler stand auf und kam mit zwei langen Schritten an seinen Tisch, wobei Fima erschrak, da der Bursche eine Pistole im Gürtel trug.
»Verzeihung. Sind Sie vielleicht zufällig Rechtsanwalt Prag?«
Fima überdachte die Frage, war kurz versucht, sie zu bejahen, da Prag ihm seit eh und je einen leisen Stich im Herzen versetzte, und sagte dann: »Ich glaube kaum.«
»Wir sind hier mit jemandem verabredet, den wir noch nie gesehen haben«, sagte der Siedler. »Ich dachte, Sie wären’s vielleicht. Entschuldigung.«
»Ich«, sagte Fima mutig, als feuere er den ersten Schuß im Bürgerkrieg, »ich gehöre nicht zu euch. Für mich seid ihr eine Pest.«
Darauf der Bursche mit Liebkindlächeln und Liebet-Israel-Miene: »Solche Ausdrücke sollte man lieber für den Feind aufbewahren. Wegen grundlosen Hasses ist der Tempel zerstört worden. Es würde uns allen nicht schaden, mal ein wenig grundlose Liebe zu versuchen.«
Helle Debattierfreude, schmeichelnde Siegeslust wallten wie Wein in Fima hoch, auf der Zungenspitze stand schon eine vernichtende Replik, doch in diesem Moment sah er Annette in der Tür verwirrt um sich blicken und bedauerte fast, daß sie gekommen war. Mußte ihr aber zuwinken und auf den Siedler verzichten. Sie entschuldigte sich für die Verspätung, und als sie sich ihm gegenübersetzte, sagte er ihr, sie sei gerade im rechten Moment gekommen, um ihn aus den Klauen der Hisbollah zu befreien. Oder richtiger, die Hisbollah aus seinen. Worauf er ihr ohne Zurückhaltung seine Ansichten in knapper Form darlegte. Erst dann kam er dazu, sich bei ihr zu entschuldigen, daß er nicht auf sie gewartet, sondern bereits Kaffee und Kuchen bestellt hatte. Und fragte sie, was sie trinken wolle. Zu seiner Verblüffung bat sie um ein Gläschen Wodka und fing an, ihm von ihrer Scheidung nach sechsundzwanzig Jahren Ehe zu erzählen, die nach ihrer Ansicht nun gerade vorbildlich gewesen sei. Zumindest dem Anschein nach.
Fima bestellte ihr Wodka. Er selbst nahm einen zweiten Kaffee und dazu ein Käse- und ein Eibrot, weil er immer noch hungrig war. Dabei hörte er ihr nur halb zu, weil am Nebentisch inzwischen ein Glatzkopf im grauen Regenmantel dazugekommen war, gewiß dieser Mister Prag, und die drei da anscheinend davon tuschelten, der Staatsanwaltschaft einen Keil zwischen die Räder zu treiben. Angestrengt bemüht, ihr Gespräch aufzufangen, sagte er, fast ohne auf seine eigenen Worte zu achten, zu Annette, er könne ihr die sechsundzwanzig Jahre kaum glauben, weil sie wie höchstens vierzig aussehe.
»Das ist nett von Ihnen«, erwiderte sie. »Sie strahlen überhaupt eine Warmherzigkeit auf mich aus. Ich meine, wenn ich einmal alles, aber wirklich alles einem guten Zuhörer erzählen könnte, würde mir das vielleicht helfen, ein bißchen Ordnung im Kopf zu schaffen. Zu begreifen, was mir passiert ist. Obwohl ich weiß, daß ich hinterher noch weniger verstehen werde. Haben Sie Geduld zum Zuhören?«
Der Knessetabgeordnete sagte: »Wir werden wenigstens versuchen, Zeit zu gewinnen. Das kann nichts schaden.«
Und der Mann im Regenmantel, vermutlich Rechtsanwalt Prag: »Für euch sieht das kinderleicht aus. In Wirklichkeit ist das gar nicht so leicht.«
»Als ständen Jerry und ich lange ruhig auf dem Balkon«, sagte Annette, »lehnten uns übers Geländer, schauten auf Garten und Wäldchen hinaus, Schulter an Schulter, und plötzlich packte er mich ohne Vorwarnung und würfe mich hinunter. Wie eine alte Kiste.«
»Traurig«, bemerkte Fima. Und etwas später: »Furchtbar.«
Dabei legte er die Finger auf ihre um die Tischkante gekrallte Hand, weil ihr wieder Tränen in den Augen standen.
»Einverstanden«, sagte der Siedler, »wir bleiben in Verbindung. Nur Vorsicht am Telefon.«
»Sehen Sie«, fuhr Annette fort, »in Romanen, Theaterstücken, Filmen gibt es immer solch geheimnisvolle Frauen. Kapriziös. Unberechenbar. Verlieben sich wie Mondsüchtige und flattern davon wie Vögel. Greta Garbo. Marlene Dietrich. Liv Ullmann. Alle möglichen femmes fatales. Rätselhafte Frauenherzen. Verachten Sie mich nicht, weil ich mitten am Tag Wodka trinke. Was ist dabei. Auch Sie sehen nicht glücklich aus. Langweile ich Sie?«
Fima rief den
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